Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Scheffner, Johann George: Mein Leben, wie ich Johann George Scheffner es selbst beschrieben. Leipzig, 1823.

Bild:
<< vorherige Seite

ihrer Umkehrung zur kalten Vernunft aus
dem Gebiete warmer Schwärmerey vielleicht
eifriger sprach, als sie wirklich darin fortge-

auch während der freyen Ergießung seiner Natur?
und wie sehr muß dann deren geniale Schön-
heit durch solche beengende Steifheit leiden?"
Mit nichten, erwiederte die Gräfin -- wenn Gö-
the sich froh feiner Natur überläßt, so ist es wirk-
lich, als wenn die Sonne aufgeht. Vor seinem
Sinn verschwindet immer mehr alle Schranke,
und in seinem Auge, seiner Stirn, seinen Zügen,
die sich immer mehr erweitern, liegt gleichsam
das Universum. Dennoch ist wahr, selbst wenn
seine Natur in ihrer heitern Fülle waltete, steckte
bisweilen etwas wieder hervor, das mich an den
Schultheißen von Frankfurt erinnerte. Mich
dünkt es war in solchen Augenblicken, wo viel
Einzelnes in seiner Seele erst zu einem Allge-
meinen werden wollte. Aber dann freute ich mich
der rechtlichen Menschheit mitten unter seiner dä-
monischen Gewalt, und wenn er auch des Ein-
zelnen noch nicht ganz habhaft war, dann wohl
mit der Hand griff, als wollte er Bilder greifen,
sehen Sie, dann hat er mich selbst kindlich ge-
rührt. Das scheint mir überhaupt in Göthes
Persönlichkeit, wie in seinen Werken, die am mei-
sten durchgehende Eigenthümlichkeit, daß man
sieht, wie das Einzelne in ihm zum Allgemeinen
und das Allgemeine zum Einzelnen wird. Jch
hab ihn einigemale mit Schiller zusammen ge-
sehen und, möchte sagen, durch den Gegensatz die-

ihrer Umkehrung zur kalten Vernunft aus
dem Gebiete warmer Schwaͤrmerey vielleicht
eifriger ſprach, als ſie wirklich darin fortge-

auch waͤhrend der freyen Ergießung ſeiner Natur?
und wie ſehr muß dann deren geniale Schoͤn-
heit durch ſolche beengende Steifheit leiden?“
Mit nichten, erwiederte die Graͤfin — wenn Goͤ-
the ſich froh feiner Natur uͤberlaͤßt, ſo iſt es wirk-
lich, als wenn die Sonne aufgeht. Vor ſeinem
Sinn verſchwindet immer mehr alle Schranke,
und in ſeinem Auge, ſeiner Stirn, ſeinen Zuͤgen,
die ſich immer mehr erweitern, liegt gleichſam
das Univerſum. Dennoch iſt wahr, ſelbſt wenn
ſeine Natur in ihrer heitern Fuͤlle waltete, ſteckte
bisweilen etwas wieder hervor, das mich an den
Schultheißen von Frankfurt erinnerte. Mich
duͤnkt es war in ſolchen Augenblicken, wo viel
Einzelnes in ſeiner Seele erſt zu einem Allge-
meinen werden wollte. Aber dann freute ich mich
der rechtlichen Menſchheit mitten unter ſeiner daͤ-
moniſchen Gewalt, und wenn er auch des Ein-
zelnen noch nicht ganz habhaft war, dann wohl
mit der Hand griff, als wollte er Bilder greifen,
ſehen Sie, dann hat er mich ſelbſt kindlich ge-
ruͤhrt. Das ſcheint mir uͤberhaupt in Goͤthes
Perſoͤnlichkeit, wie in ſeinen Werken, die am mei-
ſten durchgehende Eigenthuͤmlichkeit, daß man
ſieht, wie das Einzelne in ihm zum Allgemeinen
und das Allgemeine zum Einzelnen wird. Jch
hab ihn einigemale mit Schiller zuſammen ge-
ſehen und, moͤchte ſagen, durch den Gegenſatz die-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0236" n="219"/>
ihrer Umkehrung zur kalten Vernunft aus<lb/>
dem Gebiete warmer Schwa&#x0364;rmerey vielleicht<lb/>
eifriger &#x017F;prach, als &#x017F;ie wirklich darin fortge-<lb/><note next="#seg2pn_18_4" xml:id="seg2pn_18_3" prev="#seg2pn_18_2" place="foot" n="*)">auch wa&#x0364;hrend der freyen Ergießung &#x017F;einer Natur?<lb/>
und wie &#x017F;ehr muß dann deren geniale Scho&#x0364;n-<lb/>
heit durch &#x017F;olche beengende Steifheit leiden?&#x201C;<lb/>
Mit nichten, erwiederte die Gra&#x0364;fin &#x2014; wenn Go&#x0364;-<lb/>
the &#x017F;ich froh feiner Natur u&#x0364;berla&#x0364;ßt, &#x017F;o i&#x017F;t es wirk-<lb/>
lich, als wenn die Sonne aufgeht. Vor &#x017F;einem<lb/>
Sinn ver&#x017F;chwindet immer mehr alle Schranke,<lb/>
und in &#x017F;einem Auge, &#x017F;einer Stirn, &#x017F;einen Zu&#x0364;gen,<lb/>
die &#x017F;ich immer mehr erweitern, liegt gleich&#x017F;am<lb/>
das Univer&#x017F;um. Dennoch i&#x017F;t wahr, &#x017F;elb&#x017F;t wenn<lb/>
&#x017F;eine Natur in ihrer heitern Fu&#x0364;lle waltete, &#x017F;teckte<lb/>
bisweilen etwas wieder hervor, das mich an den<lb/>
Schultheißen von Frankfurt erinnerte. Mich<lb/>
du&#x0364;nkt es war in &#x017F;olchen Augenblicken, wo viel<lb/>
Einzelnes in &#x017F;einer Seele er&#x017F;t zu einem Allge-<lb/>
meinen werden wollte. Aber dann freute ich mich<lb/>
der rechtlichen Men&#x017F;chheit mitten unter &#x017F;einer da&#x0364;-<lb/>
moni&#x017F;chen Gewalt, und wenn er auch des Ein-<lb/>
zelnen noch nicht ganz habhaft war, dann wohl<lb/>
mit der Hand griff, als wollte er Bilder greifen,<lb/>
&#x017F;ehen Sie, dann hat er mich &#x017F;elb&#x017F;t kindlich ge-<lb/>
ru&#x0364;hrt. Das &#x017F;cheint mir u&#x0364;berhaupt in Go&#x0364;thes<lb/>
Per&#x017F;o&#x0364;nlichkeit, wie in &#x017F;einen Werken, die am mei-<lb/>
&#x017F;ten durchgehende Eigenthu&#x0364;mlichkeit, daß man<lb/>
&#x017F;ieht, wie das Einzelne in ihm zum Allgemeinen<lb/>
und das Allgemeine zum Einzelnen wird. Jch<lb/>
hab ihn einigemale mit <hi rendition="#g">Schiller</hi> zu&#x017F;ammen ge-<lb/>
&#x017F;ehen und, mo&#x0364;chte &#x017F;agen, durch den Gegen&#x017F;atz die-</note><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[219/0236] ihrer Umkehrung zur kalten Vernunft aus dem Gebiete warmer Schwaͤrmerey vielleicht eifriger ſprach, als ſie wirklich darin fortge- *) *) auch waͤhrend der freyen Ergießung ſeiner Natur? und wie ſehr muß dann deren geniale Schoͤn- heit durch ſolche beengende Steifheit leiden?“ Mit nichten, erwiederte die Graͤfin — wenn Goͤ- the ſich froh feiner Natur uͤberlaͤßt, ſo iſt es wirk- lich, als wenn die Sonne aufgeht. Vor ſeinem Sinn verſchwindet immer mehr alle Schranke, und in ſeinem Auge, ſeiner Stirn, ſeinen Zuͤgen, die ſich immer mehr erweitern, liegt gleichſam das Univerſum. Dennoch iſt wahr, ſelbſt wenn ſeine Natur in ihrer heitern Fuͤlle waltete, ſteckte bisweilen etwas wieder hervor, das mich an den Schultheißen von Frankfurt erinnerte. Mich duͤnkt es war in ſolchen Augenblicken, wo viel Einzelnes in ſeiner Seele erſt zu einem Allge- meinen werden wollte. Aber dann freute ich mich der rechtlichen Menſchheit mitten unter ſeiner daͤ- moniſchen Gewalt, und wenn er auch des Ein- zelnen noch nicht ganz habhaft war, dann wohl mit der Hand griff, als wollte er Bilder greifen, ſehen Sie, dann hat er mich ſelbſt kindlich ge- ruͤhrt. Das ſcheint mir uͤberhaupt in Goͤthes Perſoͤnlichkeit, wie in ſeinen Werken, die am mei- ſten durchgehende Eigenthuͤmlichkeit, daß man ſieht, wie das Einzelne in ihm zum Allgemeinen und das Allgemeine zum Einzelnen wird. Jch hab ihn einigemale mit Schiller zuſammen ge- ſehen und, moͤchte ſagen, durch den Gegenſatz die-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/scheffner_leben_1823
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/scheffner_leben_1823/236
Zitationshilfe: Scheffner, Johann George: Mein Leben, wie ich Johann George Scheffner es selbst beschrieben. Leipzig, 1823, S. 219. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/scheffner_leben_1823/236>, abgerufen am 21.11.2024.