ten 2. Bd. S. 283. geschrieben, und so sehr ich dieses Mannes scharfsichtige Urtheile sonst verehre und ihnen gerne beytrete, so glaub ich doch, er trete in diesem meinem Lieb- linge zu nah. Jch habe das angezogne Ca- pitel französisch und deutsch mehreremale gelesen und kann darin keine Furcht vor dem Tode entdecken. Montaigne spricht über ihn, wie er über andere Gegenstände zu sprechen gewohnt ist, und sollt ich ihn irgend einer Sünde zeihen, so wär es die, daß er auf seiner Waage Tod und Leben von gleichem Gewicht findet, da meinem Glauben und meiner Bemerkung nach, das Leben, das noch lebend wägt, immer ein wenig den Ausschlag vor dem Tode be- kommt. Das Leben ist ein Hausfreund ge- worden, der Tod ist ein besuchender Bruder, bringt uns letztrer auch das logengerechteste Certificat und das beste Empfehlungsschrei- ben, so behält erstrer doch den Vorzug. Der Mensch will immer etwas erlebt haben und ist heimlich mißtrauisch gegen das, was noch zu erleben seyn möchte und worüber ihm weder Geschichte noch Nachdenken etwas Gewisses gesagt haben oder sagen können. Außerdem ist ein großer Unterschied zwischen
ten 2. Bd. S. 283. geſchrieben, und ſo ſehr ich dieſes Mannes ſcharfſichtige Urtheile ſonſt verehre und ihnen gerne beytrete, ſo glaub ich doch, er trete in dieſem meinem Lieb- linge zu nah. Jch habe das angezogne Ca- pitel franzoͤſiſch und deutſch mehreremale geleſen und kann darin keine Furcht vor dem Tode entdecken. Montaigne ſpricht uͤber ihn, wie er uͤber andere Gegenſtaͤnde zu ſprechen gewohnt iſt, und ſollt ich ihn irgend einer Suͤnde zeihen, ſo waͤr es die, daß er auf ſeiner Waage Tod und Leben von gleichem Gewicht findet, da meinem Glauben und meiner Bemerkung nach, das Leben, das noch lebend waͤgt, immer ein wenig den Ausſchlag vor dem Tode be- kommt. Das Leben iſt ein Hausfreund ge- worden, der Tod iſt ein beſuchender Bruder, bringt uns letztrer auch das logengerechteſte Certificat und das beſte Empfehlungsſchrei- ben, ſo behaͤlt erſtrer doch den Vorzug. Der Menſch will immer etwas erlebt haben und iſt heimlich mißtrauiſch gegen das, was noch zu erleben ſeyn moͤchte und woruͤber ihm weder Geſchichte noch Nachdenken etwas Gewiſſes geſagt haben oder ſagen koͤnnen. Außerdem iſt ein großer Unterſchied zwiſchen
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ten 2. Bd. S. 283. geſchrieben, und ſo ſehr
ich dieſes Mannes ſcharfſichtige Urtheile ſonſt
verehre und ihnen gerne beytrete, ſo glaub
ich doch, er trete in dieſem meinem Lieb-
linge zu nah. Jch habe das angezogne Ca-
pitel franzoͤſiſch und deutſch mehreremale
geleſen und kann darin keine Furcht vor
dem Tode entdecken. Montaigne ſpricht
uͤber ihn, wie er uͤber andere Gegenſtaͤnde
zu ſprechen gewohnt iſt, und ſollt ich ihn
irgend einer Suͤnde zeihen, ſo waͤr es die,
daß er auf ſeiner Waage Tod und Leben
von gleichem Gewicht findet, da meinem
Glauben und meiner Bemerkung nach, das
Leben, das noch lebend waͤgt, immer
ein wenig den Ausſchlag vor dem Tode be-
kommt. Das Leben iſt ein Hausfreund ge-
worden, der Tod iſt ein beſuchender Bruder,
bringt uns letztrer auch das logengerechteſte
Certificat und das beſte Empfehlungsſchrei-
ben, ſo behaͤlt erſtrer doch den Vorzug.
Der Menſch will immer etwas erlebt haben
und iſt heimlich mißtrauiſch gegen das, was
noch zu erleben ſeyn moͤchte und woruͤber
ihm weder Geſchichte noch Nachdenken etwas
Gewiſſes geſagt haben oder ſagen koͤnnen.
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Scheffner, Johann George: Mein Leben, wie ich Johann George Scheffner es selbst beschrieben. Leipzig, 1823, S. 378. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/scheffner_leben_1823/395>, abgerufen am 25.11.2024.
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