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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859.

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Schöne in dem Maße erhaben ist, in welchem zu seiner Darstellung
nur das Nothwendige erfordert wird, so gibt es kein größeres Zeichen
des Genies, als daß es mit wenigen strengen und nothwendigen Zügen
das Objekt zur vollkommenen Anschauung bringt (Dante). Für das
Genie gibt es keine Wahl, weil es nur das Nothwendige kennt und
nur dieses will. Ganz anders ist der sentimentale Dichter daran,
welcher reflektirt, und nur rührt und selbst gerührt wird, inwiefern er
reflektirt. Der Charakter des naiven Genies ist vollständige -- Nach-
ahmung
nicht sowohl, wie Schiller sich ausdrückt 1, als vielmehr Er-
reichung
der Wirklichkeit; sein Objekt ist unabhängig von ihm, an
sich selbst. Der sentimentale Dichter strebt nach einem Unendlichen,
das, weil es in dieser Richtung nicht zu erreichen ist, auch nie zur
Anschauung kommt.

§. 68. Die Poesie in ihrer Absolutheit ist an sich
weder naiv noch sentimental
. Nicht naiv, denn dieß ist eine
Bestimmung, die selbst nur durch den Gegensatz gemacht wird (das
Absolute erscheint nur dem Sentimentalen naiv), das Sentimentale
aber ist an und für sich selbst eine Nicht-Absolutheit. Demnach etc.

Anmerkung. Der ganze Gegensatz ist also selbst ein subjektiver,
ein bloßer Erscheinungsgegensatz. Dieß läßt sich selbst sogar als That-
sache nachweisen. Von Sophokles z. B. wird niemand versucht werden
zu sagen, daß er sentimental sey, aber gerade eben auch nicht, daß er
naiv sey. Er ist mit Einem Wort der schlechthin absolute ohne alle
weitere Bestimmung. Schiller hat seine Beispiele in Ansehung des
Antiken vorzüglich aus dem Epos entlehnt. Nur möchte man sagen,
daß es mit zur Begrenzung, zur besondern Art des Epos gehöre,
daß es naiv erscheine, wie z. B. das Homerische in den meisten Zügen
seiner Helden. Wollte man das Sentimentale für etwas gelten lassen,
so könnte man es, in wiefern es überhaupt etwas wäre, dem Lyrischen
gleichsetzen. Das dramatische Werk aber kann eben deßwegen weder naiv
noch sentimental erscheinen, und eben daß Shakespeare z. B. naiv erscheinen
kann, würde ihn in dieser Rücksicht wieder als Modernen charakterisiren.

1 a. a. O. (Taschenausgabe 1847, Bd 12, S. 188.) D. H.

Schöne in dem Maße erhaben iſt, in welchem zu ſeiner Darſtellung
nur das Nothwendige erfordert wird, ſo gibt es kein größeres Zeichen
des Genies, als daß es mit wenigen ſtrengen und nothwendigen Zügen
das Objekt zur vollkommenen Anſchauung bringt (Dante). Für das
Genie gibt es keine Wahl, weil es nur das Nothwendige kennt und
nur dieſes will. Ganz anders iſt der ſentimentale Dichter daran,
welcher reflektirt, und nur rührt und ſelbſt gerührt wird, inwiefern er
reflektirt. Der Charakter des naiven Genies iſt vollſtändige — Nach-
ahmung
nicht ſowohl, wie Schiller ſich ausdrückt 1, als vielmehr Er-
reichung
der Wirklichkeit; ſein Objekt iſt unabhängig von ihm, an
ſich ſelbſt. Der ſentimentale Dichter ſtrebt nach einem Unendlichen,
das, weil es in dieſer Richtung nicht zu erreichen iſt, auch nie zur
Anſchauung kommt.

§. 68. Die Poeſie in ihrer Abſolutheit iſt an ſich
weder naiv noch ſentimental
. Nicht naiv, denn dieß iſt eine
Beſtimmung, die ſelbſt nur durch den Gegenſatz gemacht wird (das
Abſolute erſcheint nur dem Sentimentalen naiv), das Sentimentale
aber iſt an und für ſich ſelbſt eine Nicht-Abſolutheit. Demnach ꝛc.

Anmerkung. Der ganze Gegenſatz iſt alſo ſelbſt ein ſubjektiver,
ein bloßer Erſcheinungsgegenſatz. Dieß läßt ſich ſelbſt ſogar als That-
ſache nachweiſen. Von Sophokles z. B. wird niemand verſucht werden
zu ſagen, daß er ſentimental ſey, aber gerade eben auch nicht, daß er
naiv ſey. Er iſt mit Einem Wort der ſchlechthin abſolute ohne alle
weitere Beſtimmung. Schiller hat ſeine Beiſpiele in Anſehung des
Antiken vorzüglich aus dem Epos entlehnt. Nur möchte man ſagen,
daß es mit zur Begrenzung, zur beſondern Art des Epos gehöre,
daß es naiv erſcheine, wie z. B. das Homeriſche in den meiſten Zügen
ſeiner Helden. Wollte man das Sentimentale für etwas gelten laſſen,
ſo könnte man es, in wiefern es überhaupt etwas wäre, dem Lyriſchen
gleichſetzen. Das dramatiſche Werk aber kann eben deßwegen weder naiv
noch ſentimental erſcheinen, und eben daß Shakeſpeare z. B. naiv erſcheinen
kann, würde ihn in dieſer Rückſicht wieder als Modernen charakteriſiren.

1 a. a. O. (Taſchenausgabe 1847, Bd 12, S. 188.) D. H.
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[473/0149] Schöne in dem Maße erhaben iſt, in welchem zu ſeiner Darſtellung nur das Nothwendige erfordert wird, ſo gibt es kein größeres Zeichen des Genies, als daß es mit wenigen ſtrengen und nothwendigen Zügen das Objekt zur vollkommenen Anſchauung bringt (Dante). Für das Genie gibt es keine Wahl, weil es nur das Nothwendige kennt und nur dieſes will. Ganz anders iſt der ſentimentale Dichter daran, welcher reflektirt, und nur rührt und ſelbſt gerührt wird, inwiefern er reflektirt. Der Charakter des naiven Genies iſt vollſtändige — Nach- ahmung nicht ſowohl, wie Schiller ſich ausdrückt 1, als vielmehr Er- reichung der Wirklichkeit; ſein Objekt iſt unabhängig von ihm, an ſich ſelbſt. Der ſentimentale Dichter ſtrebt nach einem Unendlichen, das, weil es in dieſer Richtung nicht zu erreichen iſt, auch nie zur Anſchauung kommt. §. 68. Die Poeſie in ihrer Abſolutheit iſt an ſich weder naiv noch ſentimental. Nicht naiv, denn dieß iſt eine Beſtimmung, die ſelbſt nur durch den Gegenſatz gemacht wird (das Abſolute erſcheint nur dem Sentimentalen naiv), das Sentimentale aber iſt an und für ſich ſelbſt eine Nicht-Abſolutheit. Demnach ꝛc. Anmerkung. Der ganze Gegenſatz iſt alſo ſelbſt ein ſubjektiver, ein bloßer Erſcheinungsgegenſatz. Dieß läßt ſich ſelbſt ſogar als That- ſache nachweiſen. Von Sophokles z. B. wird niemand verſucht werden zu ſagen, daß er ſentimental ſey, aber gerade eben auch nicht, daß er naiv ſey. Er iſt mit Einem Wort der ſchlechthin abſolute ohne alle weitere Beſtimmung. Schiller hat ſeine Beiſpiele in Anſehung des Antiken vorzüglich aus dem Epos entlehnt. Nur möchte man ſagen, daß es mit zur Begrenzung, zur beſondern Art des Epos gehöre, daß es naiv erſcheine, wie z. B. das Homeriſche in den meiſten Zügen ſeiner Helden. Wollte man das Sentimentale für etwas gelten laſſen, ſo könnte man es, in wiefern es überhaupt etwas wäre, dem Lyriſchen gleichſetzen. Das dramatiſche Werk aber kann eben deßwegen weder naiv noch ſentimental erſcheinen, und eben daß Shakeſpeare z. B. naiv erſcheinen kann, würde ihn in dieſer Rückſicht wieder als Modernen charakteriſiren. 1 a. a. O. (Taſchenausgabe 1847, Bd 12, S. 188.) D. H.

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Zitationshilfe: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 473. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/149>, abgerufen am 24.11.2024.