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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859.

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auch jene aus männlichem und weiblichen Wesen gemischte Naturen,
welche die asiatische Weichlichkeit durch Verschneidung zarter Knaben
hervorbrachte, in der Kunst nachzuahmen, und so gewissermaßen einen
Zustand der Nichttrennung und der Identität der Geschlechter zu reprä-
sentiren, welcher Zustand, in einer Art des Gleichgewichts erreicht,
welches nicht bloße Nullität, sondern wirkliche Verschmelzung der beiden
widerstreitenden Charaktere ist, mit zu dem Höchsten gehört, was die
Kunst vermag.

Was den zweiten Theil der plastischen Kunst, nämlich Maß und
Verhältnisse der Theile betrifft, so ist dieser einer der schwersten,
und worüber noch am wenigsten durch Theorie ausgemacht ist. Offen-
bar zwar ist, daß die griechischen Künstler für das Verhältniß im
Ganzen und Einzelnen ihre bestimmten Regeln gehabt; nur aus einem
solchen Lehrgebäude über die Proportionen läßt sich die Ueberein-
stimmung in den Werken der Alten begreifen, die fast alle wie aus
Einer Schule zu seyn scheinen. (Die alten Theoristen sind uns verloren
gegangen.) Neuere haben zwar empirische Abstraktionen von den Werken
der Alten hierüber gemacht, aber allgemeine Gründe oder eine Her-
leitung dieser Verhältnisse aus solchen Gründen wird noch gänzlich ver-
mißt, und Winkelmann selbst hat über diesen Gegenstand in seine Ge-
schichte der Kunst eine Anleitung von Mengs eingerückt, welche nach
dem Zeugniß selbst von Künstlern höchst unverständlich ist. Was also
die Ausübung der Kunst betrifft, so kann man bis jetzt, da in der
neueren Welt nie wieder eine wahre Kunstschule und ein System der
Kunst, wie unter den Alten, sich gebildet hat, den Lehrling der
Kunst bloß an die empirische Beobachtung der in den schönsten Werken
des Alterthums angenommenen Verhältnisse verweisen. Die Theorie
aber hat hier eine Lücke, welche auszufüllen noch viel höhere Unter-
suchungen erfordert werden, die sich nicht bloß auf diesen besonderen
Gegenstand, die Proportionen der menschlichen Gestalt, sondern auf
ein allgemeines Gesetz aller Proportionen der Natur erstrecken müßten.

Die letzte, vollendete Schönheit entspringt aus der Verbindung der
beiden ersten Arten, aus der Schönheit der Formen und der Schönheit

auch jene aus männlichem und weiblichen Weſen gemiſchte Naturen,
welche die aſiatiſche Weichlichkeit durch Verſchneidung zarter Knaben
hervorbrachte, in der Kunſt nachzuahmen, und ſo gewiſſermaßen einen
Zuſtand der Nichttrennung und der Identität der Geſchlechter zu reprä-
ſentiren, welcher Zuſtand, in einer Art des Gleichgewichts erreicht,
welches nicht bloße Nullität, ſondern wirkliche Verſchmelzung der beiden
widerſtreitenden Charaktere iſt, mit zu dem Höchſten gehört, was die
Kunſt vermag.

Was den zweiten Theil der plaſtiſchen Kunſt, nämlich Maß und
Verhältniſſe der Theile betrifft, ſo iſt dieſer einer der ſchwerſten,
und worüber noch am wenigſten durch Theorie ausgemacht iſt. Offen-
bar zwar iſt, daß die griechiſchen Künſtler für das Verhältniß im
Ganzen und Einzelnen ihre beſtimmten Regeln gehabt; nur aus einem
ſolchen Lehrgebäude über die Proportionen läßt ſich die Ueberein-
ſtimmung in den Werken der Alten begreifen, die faſt alle wie aus
Einer Schule zu ſeyn ſcheinen. (Die alten Theoriſten ſind uns verloren
gegangen.) Neuere haben zwar empiriſche Abſtraktionen von den Werken
der Alten hierüber gemacht, aber allgemeine Gründe oder eine Her-
leitung dieſer Verhältniſſe aus ſolchen Gründen wird noch gänzlich ver-
mißt, und Winkelmann ſelbſt hat über dieſen Gegenſtand in ſeine Ge-
ſchichte der Kunſt eine Anleitung von Mengs eingerückt, welche nach
dem Zeugniß ſelbſt von Künſtlern höchſt unverſtändlich iſt. Was alſo
die Ausübung der Kunſt betrifft, ſo kann man bis jetzt, da in der
neueren Welt nie wieder eine wahre Kunſtſchule und ein Syſtem der
Kunſt, wie unter den Alten, ſich gebildet hat, den Lehrling der
Kunſt bloß an die empiriſche Beobachtung der in den ſchönſten Werken
des Alterthums angenommenen Verhältniſſe verweiſen. Die Theorie
aber hat hier eine Lücke, welche auszufüllen noch viel höhere Unter-
ſuchungen erfordert werden, die ſich nicht bloß auf dieſen beſonderen
Gegenſtand, die Proportionen der menſchlichen Geſtalt, ſondern auf
ein allgemeines Geſetz aller Proportionen der Natur erſtrecken müßten.

Die letzte, vollendete Schönheit entſpringt aus der Verbindung der
beiden erſten Arten, aus der Schönheit der Formen und der Schönheit

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[616/0292] auch jene aus männlichem und weiblichen Weſen gemiſchte Naturen, welche die aſiatiſche Weichlichkeit durch Verſchneidung zarter Knaben hervorbrachte, in der Kunſt nachzuahmen, und ſo gewiſſermaßen einen Zuſtand der Nichttrennung und der Identität der Geſchlechter zu reprä- ſentiren, welcher Zuſtand, in einer Art des Gleichgewichts erreicht, welches nicht bloße Nullität, ſondern wirkliche Verſchmelzung der beiden widerſtreitenden Charaktere iſt, mit zu dem Höchſten gehört, was die Kunſt vermag. Was den zweiten Theil der plaſtiſchen Kunſt, nämlich Maß und Verhältniſſe der Theile betrifft, ſo iſt dieſer einer der ſchwerſten, und worüber noch am wenigſten durch Theorie ausgemacht iſt. Offen- bar zwar iſt, daß die griechiſchen Künſtler für das Verhältniß im Ganzen und Einzelnen ihre beſtimmten Regeln gehabt; nur aus einem ſolchen Lehrgebäude über die Proportionen läßt ſich die Ueberein- ſtimmung in den Werken der Alten begreifen, die faſt alle wie aus Einer Schule zu ſeyn ſcheinen. (Die alten Theoriſten ſind uns verloren gegangen.) Neuere haben zwar empiriſche Abſtraktionen von den Werken der Alten hierüber gemacht, aber allgemeine Gründe oder eine Her- leitung dieſer Verhältniſſe aus ſolchen Gründen wird noch gänzlich ver- mißt, und Winkelmann ſelbſt hat über dieſen Gegenſtand in ſeine Ge- ſchichte der Kunſt eine Anleitung von Mengs eingerückt, welche nach dem Zeugniß ſelbſt von Künſtlern höchſt unverſtändlich iſt. Was alſo die Ausübung der Kunſt betrifft, ſo kann man bis jetzt, da in der neueren Welt nie wieder eine wahre Kunſtſchule und ein Syſtem der Kunſt, wie unter den Alten, ſich gebildet hat, den Lehrling der Kunſt bloß an die empiriſche Beobachtung der in den ſchönſten Werken des Alterthums angenommenen Verhältniſſe verweiſen. Die Theorie aber hat hier eine Lücke, welche auszufüllen noch viel höhere Unter- ſuchungen erfordert werden, die ſich nicht bloß auf dieſen beſonderen Gegenſtand, die Proportionen der menſchlichen Geſtalt, ſondern auf ein allgemeines Geſetz aller Proportionen der Natur erſtrecken müßten. Die letzte, vollendete Schönheit entſpringt aus der Verbindung der beiden erſten Arten, aus der Schönheit der Formen und der Schönheit

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Zitationshilfe: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 616. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/292>, abgerufen am 22.11.2024.