Auflösung des republikanischen Verbands und der Staaten in Italien. Indem das öffentliche Leben mehr oder weniger verschwand, mußte es sich nach innen richten. Die glücklichen Zeiten, welche Italien einigen großgesinnten Fürsten, vorzüglich den Mediceern verdankte, traten erst später ein, und kamen dem romantischen Epos zu gut, welches sich in Ariosto ausbildete. Dante und Petrarca, die ersten Urheber der lyri- schen Poesie, fielen in die Zeiten der Unruhe, der gesellschaftlichen Auf- lösung, und ihre Gesänge, wenn sie sich auf diese äußern Gegenstände beziehen, sprechen laut das Unglück dieser Zeit aus.
Die Dichtkunst der Alten feierte vorzüglich die männlichen Tugen- den, die der Krieg und das gemeinsame öffentliche Leben erzeugt und nährt. Von allen Verhältnissen der Empfindung war daher die Freund- schaft der Männer das Herrschende und die Weiberliebe ein durchaus Untergeordnetes. Die moderne Lyrik war in ihrem Ursprung der Liebe mit all den Empfindungen geweiht, welche im Begriff der Neueren damit verbunden sind. Die erste Begeisterung des Dante war die Liebe eines jungen Mädchens, der Beatrice. Er hat die Geschichte dieser Liebe in Sonetten, Canzonen und prosaischen, mit Gedichten untermisch- ten Werken, vorzüglich der Vita nuova verewigt. Die größeren Schick- sale seines späteren Lebens, die Verbannung aus Florenz, das Unglück und das Verbrechen der Zeit, spornten seinen göttlichen Geist erst zur Hervorbringung seines höheren Werks, der Divina Comedia, obgleich der Grund und Anfang dieses Gedichts wieder Beatrice ist.
Das ganze Leben des Petrarca war jener geistigen Liebe ge- weiht, die sich in der Anbetung genügt. Dieser harmonischen, von der Blüthe der Bildung und der edelsten Tugenden seiner Zeit erfüllten Seele bedurfte es, um in ihr die italienische Poesie zu dem höchsten Grad lyrischer Schönheit, Reinheit und Vortrefflichkeit auszubilden. Man würde sich sehr irren, in Petrarca einen in Liebe zerfließenden und zerschmelzenden Dichter zu suchen, da seine Formen eben so streng, präcis, bestimmt sind als die des Dante in ihrer Art.
Auch Boccaccio gesellt sich zu diesem Verein; denn auch die Muse seiner Poesie ist die Liebe.
Auflöſung des republikaniſchen Verbands und der Staaten in Italien. Indem das öffentliche Leben mehr oder weniger verſchwand, mußte es ſich nach innen richten. Die glücklichen Zeiten, welche Italien einigen großgeſinnten Fürſten, vorzüglich den Mediceern verdankte, traten erſt ſpäter ein, und kamen dem romantiſchen Epos zu gut, welches ſich in Arioſto ausbildete. Dante und Petrarca, die erſten Urheber der lyri- ſchen Poeſie, fielen in die Zeiten der Unruhe, der geſellſchaftlichen Auf- löſung, und ihre Geſänge, wenn ſie ſich auf dieſe äußern Gegenſtände beziehen, ſprechen laut das Unglück dieſer Zeit aus.
Die Dichtkunſt der Alten feierte vorzüglich die männlichen Tugen- den, die der Krieg und das gemeinſame öffentliche Leben erzeugt und nährt. Von allen Verhältniſſen der Empfindung war daher die Freund- ſchaft der Männer das Herrſchende und die Weiberliebe ein durchaus Untergeordnetes. Die moderne Lyrik war in ihrem Urſprung der Liebe mit all den Empfindungen geweiht, welche im Begriff der Neueren damit verbunden ſind. Die erſte Begeiſterung des Dante war die Liebe eines jungen Mädchens, der Beatrice. Er hat die Geſchichte dieſer Liebe in Sonetten, Canzonen und proſaiſchen, mit Gedichten untermiſch- ten Werken, vorzüglich der Vita nuova verewigt. Die größeren Schick- ſale ſeines ſpäteren Lebens, die Verbannung aus Florenz, das Unglück und das Verbrechen der Zeit, ſpornten ſeinen göttlichen Geiſt erſt zur Hervorbringung ſeines höheren Werks, der Divina Comedia, obgleich der Grund und Anfang dieſes Gedichts wieder Beatrice iſt.
Das ganze Leben des Petrarca war jener geiſtigen Liebe ge- weiht, die ſich in der Anbetung genügt. Dieſer harmoniſchen, von der Blüthe der Bildung und der edelſten Tugenden ſeiner Zeit erfüllten Seele bedurfte es, um in ihr die italieniſche Poeſie zu dem höchſten Grad lyriſcher Schönheit, Reinheit und Vortrefflichkeit auszubilden. Man würde ſich ſehr irren, in Petrarca einen in Liebe zerfließenden und zerſchmelzenden Dichter zu ſuchen, da ſeine Formen eben ſo ſtreng, präcis, beſtimmt ſind als die des Dante in ihrer Art.
Auch Boccaccio geſellt ſich zu dieſem Verein; denn auch die Muſe ſeiner Poeſie iſt die Liebe.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><p><pbfacs="#f0320"n="644"/>
Auflöſung des republikaniſchen Verbands und der Staaten in Italien.<lb/>
Indem das öffentliche Leben mehr oder weniger verſchwand, mußte es<lb/>ſich nach innen richten. Die glücklichen Zeiten, welche Italien einigen<lb/>
großgeſinnten Fürſten, vorzüglich den Mediceern verdankte, traten erſt<lb/>ſpäter ein, und kamen dem romantiſchen Epos zu gut, welches ſich in<lb/>
Arioſto ausbildete. Dante und Petrarca, die erſten Urheber der lyri-<lb/>ſchen Poeſie, fielen in die Zeiten der Unruhe, der geſellſchaftlichen Auf-<lb/>
löſung, und ihre Geſänge, wenn ſie ſich auf dieſe äußern Gegenſtände<lb/>
beziehen, ſprechen laut das Unglück dieſer Zeit aus.</p><lb/><p>Die Dichtkunſt der Alten feierte vorzüglich die männlichen Tugen-<lb/>
den, die der Krieg und das gemeinſame öffentliche Leben erzeugt und<lb/>
nährt. Von allen Verhältniſſen der Empfindung war daher die Freund-<lb/>ſchaft der Männer das Herrſchende und die Weiberliebe ein durchaus<lb/>
Untergeordnetes. Die moderne Lyrik war in ihrem Urſprung der Liebe<lb/>
mit all den Empfindungen geweiht, welche im Begriff der Neueren<lb/>
damit verbunden ſind. Die erſte Begeiſterung des <hirendition="#g">Dante</hi> war die<lb/>
Liebe eines jungen Mädchens, der Beatrice. Er hat die Geſchichte dieſer<lb/>
Liebe in Sonetten, Canzonen und proſaiſchen, mit Gedichten untermiſch-<lb/>
ten Werken, vorzüglich der <hirendition="#aq">Vita nuova</hi> verewigt. Die größeren Schick-<lb/>ſale ſeines ſpäteren Lebens, die Verbannung aus Florenz, das Unglück<lb/>
und das Verbrechen der Zeit, ſpornten ſeinen göttlichen Geiſt erſt zur<lb/>
Hervorbringung ſeines höheren Werks, der <hirendition="#aq">Divina Comedia,</hi> obgleich<lb/>
der Grund und Anfang dieſes Gedichts wieder Beatrice iſt.</p><lb/><p>Das ganze Leben des <hirendition="#g">Petrarca</hi> war jener geiſtigen Liebe ge-<lb/>
weiht, die ſich in der Anbetung genügt. Dieſer harmoniſchen, von der<lb/>
Blüthe der Bildung und der edelſten Tugenden ſeiner Zeit erfüllten<lb/>
Seele bedurfte es, um in ihr die italieniſche Poeſie zu dem höchſten<lb/>
Grad lyriſcher Schönheit, Reinheit und Vortrefflichkeit auszubilden.<lb/>
Man würde ſich ſehr irren, in Petrarca einen in Liebe zerfließenden<lb/>
und zerſchmelzenden Dichter zu ſuchen, da ſeine Formen eben ſo ſtreng,<lb/>
präcis, beſtimmt ſind als die des Dante in ihrer Art.</p><lb/><p>Auch <hirendition="#g">Boccaccio</hi> geſellt ſich zu dieſem Verein; denn auch die<lb/>
Muſe ſeiner Poeſie iſt die Liebe.</p><lb/></div></div></div></div></body></text></TEI>
[644/0320]
Auflöſung des republikaniſchen Verbands und der Staaten in Italien.
Indem das öffentliche Leben mehr oder weniger verſchwand, mußte es
ſich nach innen richten. Die glücklichen Zeiten, welche Italien einigen
großgeſinnten Fürſten, vorzüglich den Mediceern verdankte, traten erſt
ſpäter ein, und kamen dem romantiſchen Epos zu gut, welches ſich in
Arioſto ausbildete. Dante und Petrarca, die erſten Urheber der lyri-
ſchen Poeſie, fielen in die Zeiten der Unruhe, der geſellſchaftlichen Auf-
löſung, und ihre Geſänge, wenn ſie ſich auf dieſe äußern Gegenſtände
beziehen, ſprechen laut das Unglück dieſer Zeit aus.
Die Dichtkunſt der Alten feierte vorzüglich die männlichen Tugen-
den, die der Krieg und das gemeinſame öffentliche Leben erzeugt und
nährt. Von allen Verhältniſſen der Empfindung war daher die Freund-
ſchaft der Männer das Herrſchende und die Weiberliebe ein durchaus
Untergeordnetes. Die moderne Lyrik war in ihrem Urſprung der Liebe
mit all den Empfindungen geweiht, welche im Begriff der Neueren
damit verbunden ſind. Die erſte Begeiſterung des Dante war die
Liebe eines jungen Mädchens, der Beatrice. Er hat die Geſchichte dieſer
Liebe in Sonetten, Canzonen und proſaiſchen, mit Gedichten untermiſch-
ten Werken, vorzüglich der Vita nuova verewigt. Die größeren Schick-
ſale ſeines ſpäteren Lebens, die Verbannung aus Florenz, das Unglück
und das Verbrechen der Zeit, ſpornten ſeinen göttlichen Geiſt erſt zur
Hervorbringung ſeines höheren Werks, der Divina Comedia, obgleich
der Grund und Anfang dieſes Gedichts wieder Beatrice iſt.
Das ganze Leben des Petrarca war jener geiſtigen Liebe ge-
weiht, die ſich in der Anbetung genügt. Dieſer harmoniſchen, von der
Blüthe der Bildung und der edelſten Tugenden ſeiner Zeit erfüllten
Seele bedurfte es, um in ihr die italieniſche Poeſie zu dem höchſten
Grad lyriſcher Schönheit, Reinheit und Vortrefflichkeit auszubilden.
Man würde ſich ſehr irren, in Petrarca einen in Liebe zerfließenden
und zerſchmelzenden Dichter zu ſuchen, da ſeine Formen eben ſo ſtreng,
präcis, beſtimmt ſind als die des Dante in ihrer Art.
Auch Boccaccio geſellt ſich zu dieſem Verein; denn auch die
Muſe ſeiner Poeſie iſt die Liebe.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 644. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/320>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.