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Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859.

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Der Geist der modernen Zeit, der im Allgemeinen schon früher
dargestellt worden ist, bringt die Beschränkung der modernen Lyrik in
Ansehung der Gegenstände mit sich. Bild und Begleitung eines
öffentlichen und allgemeinen Lebens -- eines Lebens in einem organi-
schen Ganzen -- konnte die Lyrik in den modernen Staaten nicht mehr
werden. Es blieben für sie keine andern Gegenstände als entweder
die ganz subjektiven, einzelne momentane Empfindungen, worein sich
die lyrische Poesie auch in den schönsten Ergüssen der spätern Welt ver-
loren hat, und aus denen nur sehr mittelbar ein ganzes Leben her-
vorleuchtet, oder dauernde auf Gegenstände sich beziehende Gefühle,
wie in den Gedichten des Petrarca, wo das Ganze wieder eine Art
von romantischer oder dramatischer Einheit wird.

Die Sonetten des Petrarca sind nicht nur im Einzelnen, sondern
im Ganzen wieder Kunstwerke. (Das Sonett einer bloß architektonischen
Schönheit fähig.)

Unverkennbar ist aber, daß Wissenschaft, Kunst, Poesie von dem
geistlichen Stande ausgegangen, woraus das Unheroische, sowie daß die
Liebesgeschichten mehr auf Weiber als auf unverheirathete Mädchen
sich beziehen.

Sonst theilt sich die lyrische Poesie in Gedichte moralischen, didak-
tischen, politischen Inhalts, immer mit Uebergewicht der Reflexion, der
Subjectivität, da ihr die Objektivität im Leben fehlt. Die einzige Art
lyrischer Gedichte, welche auf ein öffentliches Leben sich beziehen, sind
die religiösen, da nur in der Kirche noch öffentliches Leben war. --
Wir kommen nun zum Epos.

Das lyrische Gedicht bezeichnet überhaupt die erste Potenz der
idealen Reihe, also die der Reflexion, des Wissens, des Bewußt-
seyns. Es steht eben deßwegen ganz unter Herrschaft der Reflexion.
Die zweite Potenz der idealen Welt überhaupt ist die des Han-
delns
, des an sich Objektiven, wie das Wissen des Subjektiven.
Gleichwie aber die Formen der Kunst überhaupt die Formen der
Dinge an sich sind, so muß diejenige Dichtart, welche der idealen Ein-
heit entspricht, nicht überhaupt nur das erscheinende Handeln, sondern

Der Geiſt der modernen Zeit, der im Allgemeinen ſchon früher
dargeſtellt worden iſt, bringt die Beſchränkung der modernen Lyrik in
Anſehung der Gegenſtände mit ſich. Bild und Begleitung eines
öffentlichen und allgemeinen Lebens — eines Lebens in einem organi-
ſchen Ganzen — konnte die Lyrik in den modernen Staaten nicht mehr
werden. Es blieben für ſie keine andern Gegenſtände als entweder
die ganz ſubjektiven, einzelne momentane Empfindungen, worein ſich
die lyriſche Poeſie auch in den ſchönſten Ergüſſen der ſpätern Welt ver-
loren hat, und aus denen nur ſehr mittelbar ein ganzes Leben her-
vorleuchtet, oder dauernde auf Gegenſtände ſich beziehende Gefühle,
wie in den Gedichten des Petrarca, wo das Ganze wieder eine Art
von romantiſcher oder dramatiſcher Einheit wird.

Die Sonetten des Petrarca ſind nicht nur im Einzelnen, ſondern
im Ganzen wieder Kunſtwerke. (Das Sonett einer bloß architektoniſchen
Schönheit fähig.)

Unverkennbar iſt aber, daß Wiſſenſchaft, Kunſt, Poeſie von dem
geiſtlichen Stande ausgegangen, woraus das Unheroiſche, ſowie daß die
Liebesgeſchichten mehr auf Weiber als auf unverheirathete Mädchen
ſich beziehen.

Sonſt theilt ſich die lyriſche Poeſie in Gedichte moraliſchen, didak-
tiſchen, politiſchen Inhalts, immer mit Uebergewicht der Reflexion, der
Subjectivität, da ihr die Objektivität im Leben fehlt. Die einzige Art
lyriſcher Gedichte, welche auf ein öffentliches Leben ſich beziehen, ſind
die religiöſen, da nur in der Kirche noch öffentliches Leben war. —
Wir kommen nun zum Epos.

Das lyriſche Gedicht bezeichnet überhaupt die erſte Potenz der
idealen Reihe, alſo die der Reflexion, des Wiſſens, des Bewußt-
ſeyns. Es ſteht eben deßwegen ganz unter Herrſchaft der Reflexion.
Die zweite Potenz der idealen Welt überhaupt iſt die des Han-
delns
, des an ſich Objektiven, wie das Wiſſen des Subjektiven.
Gleichwie aber die Formen der Kunſt überhaupt die Formen der
Dinge an ſich ſind, ſo muß diejenige Dichtart, welche der idealen Ein-
heit entſpricht, nicht überhaupt nur das erſcheinende Handeln, ſondern

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[645/0321] Der Geiſt der modernen Zeit, der im Allgemeinen ſchon früher dargeſtellt worden iſt, bringt die Beſchränkung der modernen Lyrik in Anſehung der Gegenſtände mit ſich. Bild und Begleitung eines öffentlichen und allgemeinen Lebens — eines Lebens in einem organi- ſchen Ganzen — konnte die Lyrik in den modernen Staaten nicht mehr werden. Es blieben für ſie keine andern Gegenſtände als entweder die ganz ſubjektiven, einzelne momentane Empfindungen, worein ſich die lyriſche Poeſie auch in den ſchönſten Ergüſſen der ſpätern Welt ver- loren hat, und aus denen nur ſehr mittelbar ein ganzes Leben her- vorleuchtet, oder dauernde auf Gegenſtände ſich beziehende Gefühle, wie in den Gedichten des Petrarca, wo das Ganze wieder eine Art von romantiſcher oder dramatiſcher Einheit wird. Die Sonetten des Petrarca ſind nicht nur im Einzelnen, ſondern im Ganzen wieder Kunſtwerke. (Das Sonett einer bloß architektoniſchen Schönheit fähig.) Unverkennbar iſt aber, daß Wiſſenſchaft, Kunſt, Poeſie von dem geiſtlichen Stande ausgegangen, woraus das Unheroiſche, ſowie daß die Liebesgeſchichten mehr auf Weiber als auf unverheirathete Mädchen ſich beziehen. Sonſt theilt ſich die lyriſche Poeſie in Gedichte moraliſchen, didak- tiſchen, politiſchen Inhalts, immer mit Uebergewicht der Reflexion, der Subjectivität, da ihr die Objektivität im Leben fehlt. Die einzige Art lyriſcher Gedichte, welche auf ein öffentliches Leben ſich beziehen, ſind die religiöſen, da nur in der Kirche noch öffentliches Leben war. — Wir kommen nun zum Epos. Das lyriſche Gedicht bezeichnet überhaupt die erſte Potenz der idealen Reihe, alſo die der Reflexion, des Wiſſens, des Bewußt- ſeyns. Es ſteht eben deßwegen ganz unter Herrſchaft der Reflexion. Die zweite Potenz der idealen Welt überhaupt iſt die des Han- delns, des an ſich Objektiven, wie das Wiſſen des Subjektiven. Gleichwie aber die Formen der Kunſt überhaupt die Formen der Dinge an ſich ſind, ſo muß diejenige Dichtart, welche der idealen Ein- heit entſpricht, nicht überhaupt nur das erſcheinende Handeln, ſondern

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Zitationshilfe: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Kunst (in: Sämtliche Werke. Abt. 1, Bd. 5). Stuttgart, 1859, S. 645. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_kunst_1859/321>, abgerufen am 22.11.2024.