Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Vorlesungen über die Methode des academischen Studium. Tübingen, 1803.

Bild:
<< vorherige Seite

jenige ist, die gleichsam im Namen der gan¬
zen Gattung geschehen könnte, so das wahre
Wissen dasjenige, worin nicht das Indivi¬
duum, sondern die Vernunft weiß. Diese Un¬
abhängigkeit des Wesens der Wissenschaft von
der Zeit drückt sich in dem aus, daß sie Sa¬
che der Gattung ist, welche selbst ewig ist.
Es ist also nothwendig, daß wie das Leben
und Daseyn, so die Wissenschaft sich von
Individuum an Individuum, von Geschlecht
zu Geschlecht mittheile. Ueberlieferung ist der
Ausdruck ihres ewigen Lebens. Es wäre hier
nicht der Ort, mit allen Gründen, deren
diese Behauptung fähig ist, zu beweisen, daß
alle Wissenschaft und Kunst des gegenwärti¬
gen Menschengeschlechts eine überlieferte ist.
Es ist undenkbar, daß der Mensch, wie er
jetzt erscheint, durch sich selbst sich vom In¬
stinct zum Bewußtseyn, von der Thierheit zur
Vernünftigkeit erhoben habe. Es mußte also
dem gegenwärtigen Menschengeschlecht ein an¬
deres vorangegangen seyn, welches die alte
Sage unter dem Bilde der Götter und ersten

jenige iſt, die gleichſam im Namen der gan¬
zen Gattung geſchehen koͤnnte, ſo das wahre
Wiſſen dasjenige, worin nicht das Indivi¬
duum, ſondern die Vernunft weiß. Dieſe Un¬
abhaͤngigkeit des Weſens der Wiſſenſchaft von
der Zeit druͤckt ſich in dem aus, daß ſie Sa¬
che der Gattung iſt, welche ſelbſt ewig iſt.
Es iſt alſo nothwendig, daß wie das Leben
und Daſeyn, ſo die Wiſſenſchaft ſich von
Individuum an Individuum, von Geſchlecht
zu Geſchlecht mittheile. Ueberlieferung iſt der
Ausdruck ihres ewigen Lebens. Es waͤre hier
nicht der Ort, mit allen Gruͤnden, deren
dieſe Behauptung faͤhig iſt, zu beweiſen, daß
alle Wiſſenſchaft und Kunſt des gegenwaͤrti¬
gen Menſchengeſchlechts eine uͤberlieferte iſt.
Es iſt undenkbar, daß der Menſch, wie er
jetzt erſcheint, durch ſich ſelbſt ſich vom In¬
ſtinct zum Bewußtſeyn, von der Thierheit zur
Vernuͤnftigkeit erhoben habe. Es mußte alſo
dem gegenwaͤrtigen Menſchengeſchlecht ein an¬
deres vorangegangen ſeyn, welches die alte
Sage unter dem Bilde der Goͤtter und erſten

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0040" n="31"/>
jenige i&#x017F;t, die gleich&#x017F;am im Namen der gan¬<lb/>
zen Gattung ge&#x017F;chehen ko&#x0364;nnte, &#x017F;o das wahre<lb/>
Wi&#x017F;&#x017F;en dasjenige, worin nicht das Indivi¬<lb/>
duum, &#x017F;ondern die Vernunft weiß. Die&#x017F;e Un¬<lb/>
abha&#x0364;ngigkeit des We&#x017F;ens der Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft von<lb/>
der Zeit dru&#x0364;ckt &#x017F;ich in dem aus, daß &#x017F;ie Sa¬<lb/>
che der Gattung i&#x017F;t, welche &#x017F;elb&#x017F;t ewig i&#x017F;t.<lb/>
Es i&#x017F;t al&#x017F;o nothwendig, daß wie das Leben<lb/>
und Da&#x017F;eyn, &#x017F;o die Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft &#x017F;ich von<lb/>
Individuum an Individuum, von Ge&#x017F;chlecht<lb/>
zu Ge&#x017F;chlecht mittheile. Ueberlieferung i&#x017F;t der<lb/>
Ausdruck ihres ewigen Lebens. Es wa&#x0364;re hier<lb/>
nicht der Ort, mit allen Gru&#x0364;nden, deren<lb/>
die&#x017F;e Behauptung fa&#x0364;hig i&#x017F;t, zu bewei&#x017F;en, daß<lb/>
alle Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft und Kun&#x017F;t des gegenwa&#x0364;rti¬<lb/>
gen Men&#x017F;chenge&#x017F;chlechts eine u&#x0364;berlieferte i&#x017F;t.<lb/>
Es i&#x017F;t undenkbar, daß der Men&#x017F;ch, wie er<lb/>
jetzt er&#x017F;cheint, durch &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t &#x017F;ich vom In¬<lb/>
&#x017F;tinct zum Bewußt&#x017F;eyn, von der Thierheit zur<lb/>
Vernu&#x0364;nftigkeit erhoben habe. Es mußte al&#x017F;o<lb/>
dem gegenwa&#x0364;rtigen Men&#x017F;chenge&#x017F;chlecht ein an¬<lb/>
deres vorangegangen &#x017F;eyn, welches die alte<lb/>
Sage unter dem Bilde der Go&#x0364;tter und er&#x017F;ten<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[31/0040] jenige iſt, die gleichſam im Namen der gan¬ zen Gattung geſchehen koͤnnte, ſo das wahre Wiſſen dasjenige, worin nicht das Indivi¬ duum, ſondern die Vernunft weiß. Dieſe Un¬ abhaͤngigkeit des Weſens der Wiſſenſchaft von der Zeit druͤckt ſich in dem aus, daß ſie Sa¬ che der Gattung iſt, welche ſelbſt ewig iſt. Es iſt alſo nothwendig, daß wie das Leben und Daſeyn, ſo die Wiſſenſchaft ſich von Individuum an Individuum, von Geſchlecht zu Geſchlecht mittheile. Ueberlieferung iſt der Ausdruck ihres ewigen Lebens. Es waͤre hier nicht der Ort, mit allen Gruͤnden, deren dieſe Behauptung faͤhig iſt, zu beweiſen, daß alle Wiſſenſchaft und Kunſt des gegenwaͤrti¬ gen Menſchengeſchlechts eine uͤberlieferte iſt. Es iſt undenkbar, daß der Menſch, wie er jetzt erſcheint, durch ſich ſelbſt ſich vom In¬ ſtinct zum Bewußtſeyn, von der Thierheit zur Vernuͤnftigkeit erhoben habe. Es mußte alſo dem gegenwaͤrtigen Menſchengeſchlecht ein an¬ deres vorangegangen ſeyn, welches die alte Sage unter dem Bilde der Goͤtter und erſten

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_methode_1803
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_methode_1803/40
Zitationshilfe: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Vorlesungen über die Methode des academischen Studium. Tübingen, 1803, S. 31. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schelling_methode_1803/40>, abgerufen am 21.11.2024.