Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888.psc_145.001 Wir wissen, daß man dem Theater gegenüber die psc_145.025 psc_145.001 Wir wissen, daß man dem Theater gegenüber die psc_145.025 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0161" n="145"/><lb n="psc_145.001"/> der Form zu sondern, so wenig ist es richtig, die Poesie <lb n="psc_145.002"/> ausschließlich nach dem Grade des Vergnügens, welches sie <lb n="psc_145.003"/> gewährt, oder nach der sittlichen Wirkung, die sie erzielt, zu <lb n="psc_145.004"/> beurtheilen. Der Dichter wird also Rücksicht nehmen müssen <lb n="psc_145.005"/> auf die sittlichen Jnstincte der Menge, und eben deshalb <lb n="psc_145.006"/> darauf gefaßt sein müssen, daß er von der Seite, wo er diese <lb n="psc_145.007"/> verletzt hat, keinen Beifall erntet. Unter Sittlichkeit kann <lb n="psc_145.008"/> ich aber nichts anderes verstehen als die Summe der Forderungen, <lb n="psc_145.009"/> welche die Gesammtheit an den Einzelnen stellt, die <lb n="psc_145.010"/> Schranken, mit denen die Gesellschaft ihr Mitglied umgiebt; <lb n="psc_145.011"/> und da doch jeder Einzelne sich als ein Mitglied der Gesellschaft <lb n="psc_145.012"/> fühlt, so wird der Dichter also gut thun, auf diese <lb n="psc_145.013"/> Gesellschaft Rücksicht zu nehmen. Stellen wir uns auf den <lb n="psc_145.014"/> Standpunct des öffentlichen Wohles, so werden wir unbedingt <lb n="psc_145.015"/> sittliche Wirkung von der Poesie verlangen, und <lb n="psc_145.016"/> zwar verschieden je nach den Kreisen: die directe sittliche <lb n="psc_145.017"/> Wirkung für die Masse, die indirecte für die feiner Gebildeten. <lb n="psc_145.018"/> Ein Buch, welches seiner ganzen Haltung nach <lb n="psc_145.019"/> hohe geistige Jnteressen voraussetzt, wie „Wilhelm Meister“, <lb n="psc_145.020"/> ist nicht für das große Publicum: es wird Leser aus dem <lb n="psc_145.021"/> Volk abstoßen, während es für gebildete Kreise sittlich genug <lb n="psc_145.022"/> ist. Für jene Kreise braucht man mehr directe sittliche <lb n="psc_145.023"/> Wirkung, wie sie etwa Gellert bietet.</p> <lb n="psc_145.024"/> <p> Wir wissen, daß man dem Theater gegenüber die <lb n="psc_145.025"/> Censur nicht entbehren zu können meint; und man thut <lb n="psc_145.026"/> recht daran. Man controlirt so die Wirkung auf die Massen. <lb n="psc_145.027"/> An sich könnte die Censur überhaupt ein edelgedachtes Jnstitut <lb n="psc_145.028"/> sein; was aber dagegen entscheidet, ist, daß die Censoren </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [145/0161]
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der Form zu sondern, so wenig ist es richtig, die Poesie psc_145.002
ausschließlich nach dem Grade des Vergnügens, welches sie psc_145.003
gewährt, oder nach der sittlichen Wirkung, die sie erzielt, zu psc_145.004
beurtheilen. Der Dichter wird also Rücksicht nehmen müssen psc_145.005
auf die sittlichen Jnstincte der Menge, und eben deshalb psc_145.006
darauf gefaßt sein müssen, daß er von der Seite, wo er diese psc_145.007
verletzt hat, keinen Beifall erntet. Unter Sittlichkeit kann psc_145.008
ich aber nichts anderes verstehen als die Summe der Forderungen, psc_145.009
welche die Gesammtheit an den Einzelnen stellt, die psc_145.010
Schranken, mit denen die Gesellschaft ihr Mitglied umgiebt; psc_145.011
und da doch jeder Einzelne sich als ein Mitglied der Gesellschaft psc_145.012
fühlt, so wird der Dichter also gut thun, auf diese psc_145.013
Gesellschaft Rücksicht zu nehmen. Stellen wir uns auf den psc_145.014
Standpunct des öffentlichen Wohles, so werden wir unbedingt psc_145.015
sittliche Wirkung von der Poesie verlangen, und psc_145.016
zwar verschieden je nach den Kreisen: die directe sittliche psc_145.017
Wirkung für die Masse, die indirecte für die feiner Gebildeten. psc_145.018
Ein Buch, welches seiner ganzen Haltung nach psc_145.019
hohe geistige Jnteressen voraussetzt, wie „Wilhelm Meister“, psc_145.020
ist nicht für das große Publicum: es wird Leser aus dem psc_145.021
Volk abstoßen, während es für gebildete Kreise sittlich genug psc_145.022
ist. Für jene Kreise braucht man mehr directe sittliche psc_145.023
Wirkung, wie sie etwa Gellert bietet.
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Wir wissen, daß man dem Theater gegenüber die psc_145.025
Censur nicht entbehren zu können meint; und man thut psc_145.026
recht daran. Man controlirt so die Wirkung auf die Massen. psc_145.027
An sich könnte die Censur überhaupt ein edelgedachtes Jnstitut psc_145.028
sein; was aber dagegen entscheidet, ist, daß die Censoren
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