Wenn wir diesen ganzen Vorgang ein "Auseinandersingen" psc_155.002 nennen können, so ist ebenso gut ein "Zusammensingen" psc_155.003 möglich. Die verbindenden Dritten können selbst psc_155.004 wieder Sänger sein. Es kann ein Sänger zwei bestehende psc_155.005 Sagen in dichterischer Behandlung vereinigen. Jm 5. Jahrhundert psc_155.006 gab es eine Überlieferung von Hildico, der Mörderin psc_155.007 Attilas, und es gab davon ganz unabhängig eine psc_155.008 Überlieferung von Kriemhild und ihren Brüdern, von einem psc_155.009 Siegfried, dem Gatten dieser Kriemhild, den sie früh verloren. psc_155.010 Nun kam ein Sänger, welcher diese Überlieferung psc_155.011 von Hildico mit der von Kriemhild verband. Er trug nur psc_155.012 die Geschichte von Attilas Tod vor, indem er eine Motivirung psc_155.013 hinzufügte: er behauptete, Hildico habe Attila aus Rache psc_155.014 getödtet, weil er ihre Brüder getödtet habe. So wird die psc_155.015 "Rache" für den Tod der Burgunden in die andere Überlieferung psc_155.016 hineingebracht, wozu wenige Sätze ausreichten, in psc_155.017 der balladenartigen Poesie ein einziger Satz. Hierdurch psc_155.018 aber kann dann ein Lied vom Untergang der Burgunden psc_155.019 und ein Lied vom Tode Attilas verbunden, "zusammengesungen" psc_155.020 sein und Nachfolgenden nun als eine Einheit erscheinen psc_155.021 oder sie zur Herstellung einer Einheit reizen: so psc_155.022 sind nachträglich die Verfasser der beiden älteren Lieder psc_155.023 zu Mitarbeitern an demselben jüngeren Werk geworden, ohne psc_155.024 es zu wissen.
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Es ist beiläufig zu bemerken, daß von unseren beiden psc_155.026 Beispielen aus der Geschichte des Nibelungenliedes das erste psc_155.027 eine jüngere Sagengestaltung voraussetzt. Das "Zusammensingen" psc_155.028 von Kriemhild und Hildico ist älter; dann kommt
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Wenn wir diesen ganzen Vorgang ein „Auseinandersingen“ psc_155.002 nennen können, so ist ebenso gut ein „Zusammensingen“ psc_155.003 möglich. Die verbindenden Dritten können selbst psc_155.004 wieder Sänger sein. Es kann ein Sänger zwei bestehende psc_155.005 Sagen in dichterischer Behandlung vereinigen. Jm 5. Jahrhundert psc_155.006 gab es eine Überlieferung von Hildico, der Mörderin psc_155.007 Attilas, und es gab davon ganz unabhängig eine psc_155.008 Überlieferung von Kriemhild und ihren Brüdern, von einem psc_155.009 Siegfried, dem Gatten dieser Kriemhild, den sie früh verloren. psc_155.010 Nun kam ein Sänger, welcher diese Überlieferung psc_155.011 von Hildico mit der von Kriemhild verband. Er trug nur psc_155.012 die Geschichte von Attilas Tod vor, indem er eine Motivirung psc_155.013 hinzufügte: er behauptete, Hildico habe Attila aus Rache psc_155.014 getödtet, weil er ihre Brüder getödtet habe. So wird die psc_155.015 „Rache“ für den Tod der Burgunden in die andere Überlieferung psc_155.016 hineingebracht, wozu wenige Sätze ausreichten, in psc_155.017 der balladenartigen Poesie ein einziger Satz. Hierdurch psc_155.018 aber kann dann ein Lied vom Untergang der Burgunden psc_155.019 und ein Lied vom Tode Attilas verbunden, „zusammengesungen“ psc_155.020 sein und Nachfolgenden nun als eine Einheit erscheinen psc_155.021 oder sie zur Herstellung einer Einheit reizen: so psc_155.022 sind nachträglich die Verfasser der beiden älteren Lieder psc_155.023 zu Mitarbeitern an demselben jüngeren Werk geworden, ohne psc_155.024 es zu wissen.
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Es ist beiläufig zu bemerken, daß von unseren beiden psc_155.026 Beispielen aus der Geschichte des Nibelungenliedes das erste psc_155.027 eine jüngere Sagengestaltung voraussetzt. Das „Zusammensingen“ psc_155.028 von Kriemhild und Hildico ist älter; dann kommt
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Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888, S. 155. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/scherer_poetik_1888/171>, abgerufen am 16.02.2025.
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