Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888.

Bild:
<< vorherige Seite

psc_156.001
eine Lücke, und erst im 12. Jahrhundert das "Auseinandersingen".

psc_156.002
psc_156.003

Durch das Zusammensingen entsteht das Anwachsen psc_156.004
von Sagen, es entstehen Cyklen und was solchen ähnlich; psc_156.005
dies ist also ein wichtiger Proceß. Aber auch das Auseinandersingen, psc_156.006
wo durch den innern Zusammenhang der Episoden psc_156.007
wieder die Sänger unwissentliche Mitarbeiter sind, psc_156.008
kann durch die bloße äußerliche Zusammenfassung schon eine psc_156.009
Art Einheit geben. So kann also das Auseinandersingen psc_156.010
zur Bildung größerer volksthümlicher Epopöen führen, wo psc_156.011
die ordnende vereinigende Hand nicht fehlt. Es wird also psc_156.012
nur bei regem litterarischem Jnteresse eintreten. Wir haben psc_156.013
in Niederdeutschland und Oberdeutschland im 12. Jahrhundert psc_156.014
ähnliche Fälle mit ganz verschiedener Wirkung. Auch in Niederdeutschland psc_156.015
gab es eine Reihe solcher Nibelungenlieder. Aber psc_156.016
sie wurden nicht zusammengefaßt und gingen deshalb bis psc_156.017
auf kümmerliche Reste ganz verloren; wir wissen von ihnen psc_156.018
nur dadurch, daß ein fremder Sänger sie in Norwegen zur psc_156.019
Thidreksaga vereinigt hat.

psc_156.020

Bei solchen Vorgängen der Mitarbeit ergeben sich Verschiedenheiten psc_156.021
des Stils von selbst: entweder schon auf Grund psc_156.022
der verschiedenartigen Überlieferungen, die zu Grunde liegen, psc_156.023
oder durch die verschiedenen Auffassungen der Mitarbeiter, psc_156.024
Anspielungen, die sich Bearbeiter von Episoden erlauben, psc_156.025
Widersprüche, welche sie hereinbringen u. s. w. Solche Verschiedenheiten psc_156.026
und Widersprüche gewähren uns die Möglichkeit, psc_156.027
diese Vorgänge zu erkennen und die ursprünglichen Arbeiten psc_156.028
zu scheiden.

psc_156.001
eine Lücke, und erst im 12. Jahrhundert das „Auseinandersingen“.

psc_156.002
psc_156.003

  Durch das Zusammensingen entsteht das Anwachsen psc_156.004
von Sagen, es entstehen Cyklen und was solchen ähnlich; psc_156.005
dies ist also ein wichtiger Proceß. Aber auch das Auseinandersingen, psc_156.006
wo durch den innern Zusammenhang der Episoden psc_156.007
wieder die Sänger unwissentliche Mitarbeiter sind, psc_156.008
kann durch die bloße äußerliche Zusammenfassung schon eine psc_156.009
Art Einheit geben. So kann also das Auseinandersingen psc_156.010
zur Bildung größerer volksthümlicher Epopöen führen, wo psc_156.011
die ordnende vereinigende Hand nicht fehlt. Es wird also psc_156.012
nur bei regem litterarischem Jnteresse eintreten. Wir haben psc_156.013
in Niederdeutschland und Oberdeutschland im 12. Jahrhundert psc_156.014
ähnliche Fälle mit ganz verschiedener Wirkung. Auch in Niederdeutschland psc_156.015
gab es eine Reihe solcher Nibelungenlieder. Aber psc_156.016
sie wurden nicht zusammengefaßt und gingen deshalb bis psc_156.017
auf kümmerliche Reste ganz verloren; wir wissen von ihnen psc_156.018
nur dadurch, daß ein fremder Sänger sie in Norwegen zur psc_156.019
Thidreksaga vereinigt hat.

psc_156.020

  Bei solchen Vorgängen der Mitarbeit ergeben sich Verschiedenheiten psc_156.021
des Stils von selbst: entweder schon auf Grund psc_156.022
der verschiedenartigen Überlieferungen, die zu Grunde liegen, psc_156.023
oder durch die verschiedenen Auffassungen der Mitarbeiter, psc_156.024
Anspielungen, die sich Bearbeiter von Episoden erlauben, psc_156.025
Widersprüche, welche sie hereinbringen u. s. w. Solche Verschiedenheiten psc_156.026
und Widersprüche gewähren uns die Möglichkeit, psc_156.027
diese Vorgänge zu erkennen und die ursprünglichen Arbeiten psc_156.028
zu scheiden.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0172" n="156"/><lb n="psc_156.001"/>
eine Lücke, und erst im 12. Jahrhundert das &#x201E;Auseinandersingen&#x201C;.</p>
            <lb n="psc_156.002"/>
            <lb n="psc_156.003"/>
            <p>  Durch das Zusammensingen entsteht das Anwachsen <lb n="psc_156.004"/>
von Sagen, es entstehen Cyklen und was solchen ähnlich; <lb n="psc_156.005"/>
dies ist also ein wichtiger Proceß. Aber auch das Auseinandersingen, <lb n="psc_156.006"/>
wo durch den innern Zusammenhang der Episoden <lb n="psc_156.007"/>
wieder die Sänger unwissentliche Mitarbeiter sind, <lb n="psc_156.008"/>
kann durch die bloße äußerliche Zusammenfassung schon eine <lb n="psc_156.009"/>
Art Einheit geben. So kann also das Auseinandersingen <lb n="psc_156.010"/>
zur Bildung größerer volksthümlicher Epopöen führen, wo <lb n="psc_156.011"/>
die ordnende vereinigende Hand nicht fehlt. Es wird also <lb n="psc_156.012"/>
nur bei regem litterarischem Jnteresse eintreten. Wir haben <lb n="psc_156.013"/>
in Niederdeutschland und Oberdeutschland im 12. Jahrhundert <lb n="psc_156.014"/>
ähnliche Fälle mit ganz verschiedener Wirkung. Auch in Niederdeutschland <lb n="psc_156.015"/>
gab es eine Reihe solcher Nibelungenlieder. Aber <lb n="psc_156.016"/>
sie wurden nicht zusammengefaßt und gingen deshalb bis <lb n="psc_156.017"/>
auf kümmerliche Reste ganz verloren; wir wissen von ihnen <lb n="psc_156.018"/>
nur dadurch, daß ein fremder Sänger sie in Norwegen zur <lb n="psc_156.019"/>
Thidreksaga vereinigt hat.</p>
            <lb n="psc_156.020"/>
            <p>  Bei solchen Vorgängen der Mitarbeit ergeben sich Verschiedenheiten <lb n="psc_156.021"/>
des Stils von selbst: entweder schon auf Grund <lb n="psc_156.022"/>
der verschiedenartigen Überlieferungen, die zu Grunde liegen, <lb n="psc_156.023"/>
oder durch die verschiedenen Auffassungen der Mitarbeiter, <lb n="psc_156.024"/>
Anspielungen, die sich Bearbeiter von Episoden erlauben, <lb n="psc_156.025"/>
Widersprüche, welche sie hereinbringen u. s. w. Solche Verschiedenheiten <lb n="psc_156.026"/>
und Widersprüche gewähren uns die Möglichkeit, <lb n="psc_156.027"/>
diese Vorgänge zu erkennen und die ursprünglichen Arbeiten <lb n="psc_156.028"/>
zu scheiden.</p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[156/0172] psc_156.001 eine Lücke, und erst im 12. Jahrhundert das „Auseinandersingen“. psc_156.002 psc_156.003   Durch das Zusammensingen entsteht das Anwachsen psc_156.004 von Sagen, es entstehen Cyklen und was solchen ähnlich; psc_156.005 dies ist also ein wichtiger Proceß. Aber auch das Auseinandersingen, psc_156.006 wo durch den innern Zusammenhang der Episoden psc_156.007 wieder die Sänger unwissentliche Mitarbeiter sind, psc_156.008 kann durch die bloße äußerliche Zusammenfassung schon eine psc_156.009 Art Einheit geben. So kann also das Auseinandersingen psc_156.010 zur Bildung größerer volksthümlicher Epopöen führen, wo psc_156.011 die ordnende vereinigende Hand nicht fehlt. Es wird also psc_156.012 nur bei regem litterarischem Jnteresse eintreten. Wir haben psc_156.013 in Niederdeutschland und Oberdeutschland im 12. Jahrhundert psc_156.014 ähnliche Fälle mit ganz verschiedener Wirkung. Auch in Niederdeutschland psc_156.015 gab es eine Reihe solcher Nibelungenlieder. Aber psc_156.016 sie wurden nicht zusammengefaßt und gingen deshalb bis psc_156.017 auf kümmerliche Reste ganz verloren; wir wissen von ihnen psc_156.018 nur dadurch, daß ein fremder Sänger sie in Norwegen zur psc_156.019 Thidreksaga vereinigt hat. psc_156.020   Bei solchen Vorgängen der Mitarbeit ergeben sich Verschiedenheiten psc_156.021 des Stils von selbst: entweder schon auf Grund psc_156.022 der verschiedenartigen Überlieferungen, die zu Grunde liegen, psc_156.023 oder durch die verschiedenen Auffassungen der Mitarbeiter, psc_156.024 Anspielungen, die sich Bearbeiter von Episoden erlauben, psc_156.025 Widersprüche, welche sie hereinbringen u. s. w. Solche Verschiedenheiten psc_156.026 und Widersprüche gewähren uns die Möglichkeit, psc_156.027 diese Vorgänge zu erkennen und die ursprünglichen Arbeiten psc_156.028 zu scheiden.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/scherer_poetik_1888
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/scherer_poetik_1888/172
Zitationshilfe: Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888, S. 156. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/scherer_poetik_1888/172>, abgerufen am 21.11.2024.