Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888.

Bild:
<< vorherige Seite
psc_246.001

Die epischen Dichtungsarten sind dadurch absolut festbegrenzt, psc_246.002
daß sie der Art der Rede nach als Vorträge aufgefaßt psc_246.003
werden müssen, als Vorträge, die von Vergangenem psc_246.004
handeln und in denen der Dichter in der Regel im eigenen psc_246.005
Namen redet, nicht in Maske, nicht in Rolle -- obgleich an psc_246.006
sich möglich wäre eine Figur einzuführen, welche dann die psc_246.007
Erzählung vortrüge; aber selbst diese würde im eigenen Namen psc_246.008
reden. Er kann aber dann entweder von sich oder von Andern psc_246.009
erzählen.

psc_246.010

Hier ist natürlich wieder dies das ursprüngliche Verhältniß: psc_246.011
lebendige Rede; die Zuhörer im Kreise; der Redner spricht zu psc_246.012
ihnen. Dies Natur- und Grundverhältniß tritt auch vielfach psc_246.013
litterarisch hervor: durch die Anrede "Jhr"; durch die Betheuerung psc_246.014
der Wahrheit (mittelhochdeutsch): daz ich iu sage psc_246.015
daz ist war
; auch als Berufung auf Zeugen (althochdeutsch): psc_246.016
ik weiz, ik gihorta; oder die Trinkforderung im "Salomo psc_246.017
und Morold: der leser, der ein trinken haben will. -- psc_246.018
Aus diesem alten natürlichen Grundverhältniß ergiebt sich nun, psc_246.019
daß die Forderung, der Redner, der Dichter der epischen Erzählung, psc_246.020
solle vollständig verschwinden, ungerechtfertigt, weil psc_246.021
gegen die Wahrheit der Dinge ist. Er redet ja, er weiß davon, psc_246.022
es steht bei ihm, was er uns mittheilen will. Die neuerdings psc_246.023
beliebten Einkleidungen ändern nichts an der Sache. psc_246.024
Es hängt freilich von dem Erzähler ab, wie weit er sich einmischen psc_246.025
will; er thut es aber überall. Wo ein Urtheil ausgesprochen psc_246.026
wird, da erscheint er: zu dem Wissen tritt die Meinung. psc_246.027
Wo er irgend ein Epitheton beifügt: der edle, herrliche u. s. w., psc_246.028
tritt der Dichter hervor, und so auch Homer selbst. Jn jedem

psc_246.001

  Die epischen Dichtungsarten sind dadurch absolut festbegrenzt, psc_246.002
daß sie der Art der Rede nach als Vorträge aufgefaßt psc_246.003
werden müssen, als Vorträge, die von Vergangenem psc_246.004
handeln und in denen der Dichter in der Regel im eigenen psc_246.005
Namen redet, nicht in Maske, nicht in Rolle — obgleich an psc_246.006
sich möglich wäre eine Figur einzuführen, welche dann die psc_246.007
Erzählung vortrüge; aber selbst diese würde im eigenen Namen psc_246.008
reden. Er kann aber dann entweder von sich oder von Andern psc_246.009
erzählen.

psc_246.010

  Hier ist natürlich wieder dies das ursprüngliche Verhältniß: psc_246.011
lebendige Rede; die Zuhörer im Kreise; der Redner spricht zu psc_246.012
ihnen. Dies Natur- und Grundverhältniß tritt auch vielfach psc_246.013
litterarisch hervor: durch die Anrede „Jhr“; durch die Betheuerung psc_246.014
der Wahrheit (mittelhochdeutsch): daz ich iu sage psc_246.015
daz ist wâr
; auch als Berufung auf Zeugen (althochdeutsch): psc_246.016
ik weiz, ik gihôrta; oder die Trinkforderung im „Salomo psc_246.017
und Morold: der leser, der ein trinken haben will. — psc_246.018
Aus diesem alten natürlichen Grundverhältniß ergiebt sich nun, psc_246.019
daß die Forderung, der Redner, der Dichter der epischen Erzählung, psc_246.020
solle vollständig verschwinden, ungerechtfertigt, weil psc_246.021
gegen die Wahrheit der Dinge ist. Er redet ja, er weiß davon, psc_246.022
es steht bei ihm, was er uns mittheilen will. Die neuerdings psc_246.023
beliebten Einkleidungen ändern nichts an der Sache. psc_246.024
Es hängt freilich von dem Erzähler ab, wie weit er sich einmischen psc_246.025
will; er thut es aber überall. Wo ein Urtheil ausgesprochen psc_246.026
wird, da erscheint er: zu dem Wissen tritt die Meinung. psc_246.027
Wo er irgend ein Epitheton beifügt: der edle, herrliche u. s. w., psc_246.028
tritt der Dichter hervor, und so auch Homer selbst. Jn jedem

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0262" n="246"/>
          <lb n="psc_246.001"/>
          <p>  Die <hi rendition="#g">epischen</hi> Dichtungsarten sind dadurch absolut festbegrenzt, <lb n="psc_246.002"/>
daß sie der Art der Rede nach als Vorträge aufgefaßt <lb n="psc_246.003"/>
werden müssen, als Vorträge, die von Vergangenem <lb n="psc_246.004"/>
handeln und in denen der Dichter in der Regel im eigenen <lb n="psc_246.005"/>
Namen redet, nicht in Maske, nicht in Rolle &#x2014; obgleich an <lb n="psc_246.006"/>
sich möglich wäre eine Figur einzuführen, welche dann die <lb n="psc_246.007"/>
Erzählung vortrüge; aber selbst diese würde im eigenen Namen <lb n="psc_246.008"/>
reden. Er kann aber dann entweder von sich oder von Andern <lb n="psc_246.009"/>
erzählen.</p>
          <lb n="psc_246.010"/>
          <p>  Hier ist natürlich wieder dies das ursprüngliche Verhältniß: <lb n="psc_246.011"/>
lebendige Rede; die Zuhörer im Kreise; der Redner spricht zu <lb n="psc_246.012"/>
ihnen. Dies Natur- und Grundverhältniß tritt auch vielfach <lb n="psc_246.013"/>
litterarisch hervor: durch die Anrede &#x201E;Jhr&#x201C;; durch die Betheuerung <lb n="psc_246.014"/>
der Wahrheit (mittelhochdeutsch): <hi rendition="#aq">daz ich iu sage <lb n="psc_246.015"/>
daz ist wâr</hi>; auch als Berufung auf Zeugen (althochdeutsch): <lb n="psc_246.016"/> <hi rendition="#aq">ik weiz, ik gihôrta</hi>; oder die Trinkforderung im &#x201E;Salomo <lb n="psc_246.017"/>
und Morold: der <hi rendition="#aq">leser</hi>, der <hi rendition="#aq">ein trinken</hi> haben will. &#x2014; <lb n="psc_246.018"/>
Aus diesem alten natürlichen Grundverhältniß ergiebt sich nun, <lb n="psc_246.019"/>
daß die Forderung, der Redner, der Dichter der epischen Erzählung, <lb n="psc_246.020"/>
solle vollständig verschwinden, ungerechtfertigt, weil <lb n="psc_246.021"/>
gegen die Wahrheit der Dinge ist. Er redet ja, er weiß davon, <lb n="psc_246.022"/>
es steht bei ihm, was er uns mittheilen will. Die neuerdings <lb n="psc_246.023"/>
beliebten Einkleidungen ändern nichts an der Sache. <lb n="psc_246.024"/>
Es hängt freilich von dem Erzähler ab, wie weit er sich einmischen <lb n="psc_246.025"/>
will; er thut es aber überall. Wo ein Urtheil ausgesprochen <lb n="psc_246.026"/>
wird, da erscheint er: zu dem Wissen tritt die Meinung. <lb n="psc_246.027"/>
Wo er irgend ein Epitheton beifügt: der edle, herrliche u. s. w., <lb n="psc_246.028"/>
tritt der Dichter hervor, und so auch Homer selbst. Jn jedem
</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[246/0262] psc_246.001   Die epischen Dichtungsarten sind dadurch absolut festbegrenzt, psc_246.002 daß sie der Art der Rede nach als Vorträge aufgefaßt psc_246.003 werden müssen, als Vorträge, die von Vergangenem psc_246.004 handeln und in denen der Dichter in der Regel im eigenen psc_246.005 Namen redet, nicht in Maske, nicht in Rolle — obgleich an psc_246.006 sich möglich wäre eine Figur einzuführen, welche dann die psc_246.007 Erzählung vortrüge; aber selbst diese würde im eigenen Namen psc_246.008 reden. Er kann aber dann entweder von sich oder von Andern psc_246.009 erzählen. psc_246.010   Hier ist natürlich wieder dies das ursprüngliche Verhältniß: psc_246.011 lebendige Rede; die Zuhörer im Kreise; der Redner spricht zu psc_246.012 ihnen. Dies Natur- und Grundverhältniß tritt auch vielfach psc_246.013 litterarisch hervor: durch die Anrede „Jhr“; durch die Betheuerung psc_246.014 der Wahrheit (mittelhochdeutsch): daz ich iu sage psc_246.015 daz ist wâr; auch als Berufung auf Zeugen (althochdeutsch): psc_246.016 ik weiz, ik gihôrta; oder die Trinkforderung im „Salomo psc_246.017 und Morold: der leser, der ein trinken haben will. — psc_246.018 Aus diesem alten natürlichen Grundverhältniß ergiebt sich nun, psc_246.019 daß die Forderung, der Redner, der Dichter der epischen Erzählung, psc_246.020 solle vollständig verschwinden, ungerechtfertigt, weil psc_246.021 gegen die Wahrheit der Dinge ist. Er redet ja, er weiß davon, psc_246.022 es steht bei ihm, was er uns mittheilen will. Die neuerdings psc_246.023 beliebten Einkleidungen ändern nichts an der Sache. psc_246.024 Es hängt freilich von dem Erzähler ab, wie weit er sich einmischen psc_246.025 will; er thut es aber überall. Wo ein Urtheil ausgesprochen psc_246.026 wird, da erscheint er: zu dem Wissen tritt die Meinung. psc_246.027 Wo er irgend ein Epitheton beifügt: der edle, herrliche u. s. w., psc_246.028 tritt der Dichter hervor, und so auch Homer selbst. Jn jedem

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/scherer_poetik_1888
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/scherer_poetik_1888/262
Zitationshilfe: Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888, S. 246. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/scherer_poetik_1888/262>, abgerufen am 22.11.2024.