nen er sich während seines ganzen Lebens nie ganz losmachen konnte. Religiöse Melancholie war eine Erbkrankheit in seiner Familie; die Erziehung, wel¬ che man ihm und seinen Brüdern geben ließ, war dieser Disposition angemessen, die Menschen, denen man sie anvertraute, aus diesem Gesichtspunkte gewählt, also entweder Schwärmer oder Heuchler. Alle Lebhaftigkeit des Knaben in einem dumpfen Geisteszwange zu ersticken, war das einzige Mittel, sich der höchsten Zufriedenheit der fürstlichen Ael¬ tern zu versichern. Diese schwarze nächtliche Ge¬ stalt hatte die ganze Jugendzeit unsers Prinzen; selbst aus seinen Spielen war die Freude ver¬ bannt. Alle seine Vorstellungen von Religion hat¬ ten etwas Fürchterliches an sich, und eben das Grauenvolle und Derbe war es, was sich seiner lebhaften Einbildungskraft zuerst bemächtigte, und sich auch am längsten darin erhielt. Sein Gott war ein Schreckbild, ein strafendes Wesen; seine Gottesverehrung knechtisches Zittern oder blinde, alle Kraft und Kühnheit erstickende Ergebung. Auf allen seinen kindischen und jugendlichen Nei¬ gungen, denen ein derber Körper und eine blühen¬ de Gesundheit um so kraftvollere Explosionen gab, stand ihm die Religion im Wege; mit allem, wor¬ an sein jugendliches Herz sich hing, lag sie im Streite, er lernte sie nie als eine Wohlthat, nur als eine Geißel seiner Leidenschaften kennen. So entbrannte allmählig eine stille Indignation gegen sie in seinem Herzen, welche mit einem respektvol¬ len Glauben und blinder Furcht in seinem Kopf und
Her¬
nen er ſich während ſeines ganzen Lebens nie ganz losmachen konnte. Religiöſe Melancholie war eine Erbkrankheit in ſeiner Familie; die Erziehung, wel¬ che man ihm und ſeinen Brüdern geben ließ, war dieſer Diſpoſition angemeſſen, die Menſchen, denen man ſie anvertraute, aus dieſem Geſichtspunkte gewählt, alſo entweder Schwärmer oder Heuchler. Alle Lebhaftigkeit des Knaben in einem dumpfen Geiſteszwange zu erſticken, war das einzige Mittel, ſich der höchſten Zufriedenheit der fürſtlichen Ael¬ tern zu verſichern. Dieſe ſchwarze nächtliche Ge¬ ſtalt hatte die ganze Jugendzeit unſers Prinzen; ſelbſt aus ſeinen Spielen war die Freude ver¬ bannt. Alle ſeine Vorſtellungen von Religion hat¬ ten etwas Fürchterliches an ſich, und eben das Grauenvolle und Derbe war es, was ſich ſeiner lebhaften Einbildungskraft zuerſt bemächtigte, und ſich auch am längſten darin erhielt. Sein Gott war ein Schreckbild, ein ſtrafendes Weſen; ſeine Gottesverehrung knechtiſches Zittern oder blinde, alle Kraft und Kühnheit erſtickende Ergebung. Auf allen ſeinen kindiſchen und jugendlichen Nei¬ gungen, denen ein derber Körper und eine blühen¬ de Geſundheit um ſo kraftvollere Exploſionen gab, ſtand ihm die Religion im Wege; mit allem, wor¬ an ſein jugendliches Herz ſich hing, lag ſie im Streite, er lernte ſie nie als eine Wohlthat, nur als eine Geißel ſeiner Leidenſchaften kennen. So entbrannte allmählig eine ſtille Indignation gegen ſie in ſeinem Herzen, welche mit einem reſpektvol¬ len Glauben und blinder Furcht in ſeinem Kopf und
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nen er ſich während ſeines ganzen Lebens nie ganz
losmachen konnte. Religiöſe Melancholie war eine
Erbkrankheit in ſeiner Familie; die Erziehung, wel¬
che man ihm und ſeinen Brüdern geben ließ, war
dieſer Diſpoſition angemeſſen, die Menſchen, denen
man ſie anvertraute, aus dieſem Geſichtspunkte
gewählt, alſo entweder Schwärmer oder Heuchler.
Alle Lebhaftigkeit des Knaben in einem dumpfen
Geiſteszwange zu erſticken, war das einzige Mittel,
ſich der höchſten Zufriedenheit der fürſtlichen Ael¬
tern zu verſichern. Dieſe ſchwarze nächtliche Ge¬
ſtalt hatte die ganze Jugendzeit unſers Prinzen;
ſelbſt aus ſeinen Spielen war die Freude ver¬
bannt. Alle ſeine Vorſtellungen von Religion hat¬
ten etwas Fürchterliches an ſich, und eben das
Grauenvolle und Derbe war es, was ſich ſeiner
lebhaften Einbildungskraft zuerſt bemächtigte, und
ſich auch am längſten darin erhielt. Sein Gott
war ein Schreckbild, ein ſtrafendes Weſen; ſeine
Gottesverehrung knechtiſches Zittern oder blinde,
alle Kraft und Kühnheit erſtickende Ergebung.
Auf allen ſeinen kindiſchen und jugendlichen Nei¬
gungen, denen ein derber Körper und eine blühen¬
de Geſundheit um ſo kraftvollere Exploſionen gab,
ſtand ihm die Religion im Wege; mit allem, wor¬
an ſein jugendliches Herz ſich hing, lag ſie im
Streite, er lernte ſie nie als eine Wohlthat, nur
als eine Geißel ſeiner Leidenſchaften kennen. So
entbrannte allmählig eine ſtille Indignation gegen
ſie in ſeinem Herzen, welche mit einem reſpektvol¬
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Schiller, Friedrich: Der Geisterseher. Leipzig, 1789, S. 93. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_geisterseher_1789/101>, abgerufen am 16.02.2025.
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