eintrat, mußte, wenigstens so lange er ihr lebte, sei¬ nen Rang, seine Nation, seine Religionsparthey, kurz, alle conventionelle Unterscheidungszeichen ablegen, und sich in einen gewissen Stand universeller Gleich¬ heit begeben. Die Wahl der Mitglieder war in der That streng, weil nur Vorzüge des Geists einen Weg dazu bahnten. Die Gesellschaft rühmte sich des feinsten Tons und des ausgebildetsten Geschmacks, und in diesem Rufe stand sie auch wirklich in ganz Venedig. Dieses sowohl als der Schein von Gleich¬ heit, der darin herrschte, zog den Prinzen unwi¬ derstehlich an. Ein geistvoller, durch feinen Witz aufgeheiterter Umgang, unterrichtende Unterhal¬ tungen, das Beste aus der gelehrten und politischen Welt, das hier, wie in seinem Mittelpunkte zu¬ sammenfloß, verbargen ihm lange Zeit das Ge¬ fährliche dieser Verbindung. Wie ihm nach und nach der Geist des Instituts durch die Maske hin¬ durch sichtbarer wurde, oder man es auch müde war, länger gegen ihn auf seiner Hut zu seyn, war der Rückweg gefährlich, und falsche Schaam sowohl als Sorge für seine Sicherheit zwangen ihn, sein innres Misfallen zu verbergen. Aber schon durch bloße Vertraulichkeit mit dieser Menschenklasse und ihren Gesinnungen, wenn sie ihn auch nicht zur Nachahmung hinrissen, ging die reine, schöne Ein¬ falt seines Charakters und die Zartheit seiner mo¬ ralischen Gefühle verloren. Seine durch so wenig gründliche Kenntnisse unterstüzte Vernunft konnte ohne fremde Beyhülfe die feinen Trugschlüsse nicht lösen, womit man sie hier verstrickt hatte, und un¬
ver¬
G 2
eintrat, mußte, wenigſtens ſo lange er ihr lebte, ſei¬ nen Rang, ſeine Nation, ſeine Religionsparthey, kurz, alle conventionelle Unterſcheidungszeichen ablegen, und ſich in einen gewiſſen Stand univerſeller Gleich¬ heit begeben. Die Wahl der Mitglieder war in der That ſtreng, weil nur Vorzüge des Geiſts einen Weg dazu bahnten. Die Geſellſchaft rühmte ſich des feinſten Tons und des ausgebildetſten Geſchmacks, und in dieſem Rufe ſtand ſie auch wirklich in ganz Venedig. Dieſes ſowohl als der Schein von Gleich¬ heit, der darin herrſchte, zog den Prinzen unwi¬ derſtehlich an. Ein geiſtvoller, durch feinen Witz aufgeheiterter Umgang, unterrichtende Unterhal¬ tungen, das Beſte aus der gelehrten und politiſchen Welt, das hier, wie in ſeinem Mittelpunkte zu¬ ſammenfloß, verbargen ihm lange Zeit das Ge¬ fährliche dieſer Verbindung. Wie ihm nach und nach der Geiſt des Inſtituts durch die Maſke hin¬ durch ſichtbarer wurde, oder man es auch müde war, länger gegen ihn auf ſeiner Hut zu ſeyn, war der Rückweg gefährlich, und falſche Schaam ſowohl als Sorge für ſeine Sicherheit zwangen ihn, ſein innres Misfallen zu verbergen. Aber ſchon durch bloße Vertraulichkeit mit dieſer Menſchenklaſſe und ihren Geſinnungen, wenn ſie ihn auch nicht zur Nachahmung hinriſſen, ging die reine, ſchöne Ein¬ falt ſeines Charakters und die Zartheit ſeiner mo¬ raliſchen Gefühle verloren. Seine durch ſo wenig gründliche Kenntniſſe unterſtüzte Vernunft konnte ohne fremde Beyhülfe die feinen Trugſchlüſſe nicht löſen, womit man ſie hier verſtrickt hatte, und un¬
ver¬
G 2
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0107"n="99"/>
eintrat, mußte, wenigſtens ſo lange er ihr lebte, ſei¬<lb/>
nen Rang, ſeine Nation, ſeine Religionsparthey, kurz,<lb/>
alle conventionelle Unterſcheidungszeichen ablegen,<lb/>
und ſich in einen gewiſſen Stand univerſeller Gleich¬<lb/>
heit begeben. Die Wahl der Mitglieder war in der<lb/>
That ſtreng, weil nur Vorzüge des Geiſts einen<lb/>
Weg dazu bahnten. Die Geſellſchaft rühmte ſich<lb/>
des feinſten Tons und des ausgebildetſten Geſchmacks,<lb/>
und in dieſem Rufe ſtand ſie auch wirklich in ganz<lb/>
Venedig. Dieſes ſowohl als der Schein von Gleich¬<lb/>
heit, der darin herrſchte, zog den Prinzen unwi¬<lb/>
derſtehlich an. Ein geiſtvoller, durch feinen Witz<lb/>
aufgeheiterter Umgang, unterrichtende Unterhal¬<lb/>
tungen, das Beſte aus der gelehrten und politiſchen<lb/>
Welt, das hier, wie in ſeinem Mittelpunkte zu¬<lb/>ſammenfloß, verbargen ihm lange Zeit das Ge¬<lb/>
fährliche dieſer Verbindung. Wie ihm nach und<lb/>
nach der Geiſt des Inſtituts durch die Maſke hin¬<lb/>
durch ſichtbarer wurde, oder man es auch müde<lb/>
war, länger gegen ihn auf ſeiner Hut zu ſeyn, war<lb/>
der Rückweg gefährlich, und falſche Schaam ſowohl<lb/>
als Sorge für ſeine Sicherheit zwangen ihn, ſein<lb/>
innres Misfallen zu verbergen. Aber ſchon durch<lb/>
bloße Vertraulichkeit mit dieſer Menſchenklaſſe und<lb/>
ihren Geſinnungen, wenn ſie ihn auch nicht zur<lb/>
Nachahmung hinriſſen, ging die reine, ſchöne Ein¬<lb/>
falt ſeines Charakters und die Zartheit ſeiner mo¬<lb/>
raliſchen Gefühle verloren. Seine durch ſo wenig<lb/>
gründliche Kenntniſſe unterſtüzte Vernunft konnte<lb/>
ohne fremde Beyhülfe die feinen Trugſchlüſſe nicht<lb/>
löſen, womit man ſie hier verſtrickt hatte, und un¬<lb/><fwplace="bottom"type="sig">G 2<lb/></fw><fwplace="bottom"type="catch">ver¬<lb/></fw></p></div></div></body></text></TEI>
[99/0107]
eintrat, mußte, wenigſtens ſo lange er ihr lebte, ſei¬
nen Rang, ſeine Nation, ſeine Religionsparthey, kurz,
alle conventionelle Unterſcheidungszeichen ablegen,
und ſich in einen gewiſſen Stand univerſeller Gleich¬
heit begeben. Die Wahl der Mitglieder war in der
That ſtreng, weil nur Vorzüge des Geiſts einen
Weg dazu bahnten. Die Geſellſchaft rühmte ſich
des feinſten Tons und des ausgebildetſten Geſchmacks,
und in dieſem Rufe ſtand ſie auch wirklich in ganz
Venedig. Dieſes ſowohl als der Schein von Gleich¬
heit, der darin herrſchte, zog den Prinzen unwi¬
derſtehlich an. Ein geiſtvoller, durch feinen Witz
aufgeheiterter Umgang, unterrichtende Unterhal¬
tungen, das Beſte aus der gelehrten und politiſchen
Welt, das hier, wie in ſeinem Mittelpunkte zu¬
ſammenfloß, verbargen ihm lange Zeit das Ge¬
fährliche dieſer Verbindung. Wie ihm nach und
nach der Geiſt des Inſtituts durch die Maſke hin¬
durch ſichtbarer wurde, oder man es auch müde
war, länger gegen ihn auf ſeiner Hut zu ſeyn, war
der Rückweg gefährlich, und falſche Schaam ſowohl
als Sorge für ſeine Sicherheit zwangen ihn, ſein
innres Misfallen zu verbergen. Aber ſchon durch
bloße Vertraulichkeit mit dieſer Menſchenklaſſe und
ihren Geſinnungen, wenn ſie ihn auch nicht zur
Nachahmung hinriſſen, ging die reine, ſchöne Ein¬
falt ſeines Charakters und die Zartheit ſeiner mo¬
raliſchen Gefühle verloren. Seine durch ſo wenig
gründliche Kenntniſſe unterſtüzte Vernunft konnte
ohne fremde Beyhülfe die feinen Trugſchlüſſe nicht
löſen, womit man ſie hier verſtrickt hatte, und un¬
ver¬
G 2
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Schiller, Friedrich: Der Geisterseher. Leipzig, 1789, S. 99. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_geisterseher_1789/107>, abgerufen am 16.02.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.