Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schiller, Friedrich: Der Geisterseher. Leipzig, 1789.

Bild:
<< vorherige Seite

"O machen Sie, daß mir das Wolkenbild hal¬
te, und ich will meine glühenden Arme darum schla¬
gen. Was für Freude kann es mir geben, Er¬
scheinungen zu beglücken, die morgen dahin seyn
werden, wie ich? -- Ist nicht alles Flucht um
mich herum? Alles stößt sich und drängt seinen
Nachbar weg, aus dem Quell des Daseyns einen
Tropfen eilend zu trinken, und lechzend davon zu
gehen. Jezt in dem Augenblick, wo ich meiner
Kraft mich freue, ist schon ein werdendes Leben an
meine Verwesung angewiesen. Zeigen Sie mir ein
Wesen, das dauert, so will ich tugendhaft seyn."

Was hat denn die wohlthätigen Empfindungen
verdrängt, die einst der Genuß und die Richtschnur
Ihres Lebens waren? Saaten für die Zukunft zu
pflanzen, einer hohen ewigen Ordnung zu
dienen --

"Dienen! Dienen gewiß, so gewiß als der
unbedeutendste Mauerstein der Simmetrie des Pal¬
lastes, die auf ihm ruhet! Aber auch als ein mit¬
befragtes, mitgenießendes Wesen? Lieblicher gut¬
herziger Wahn des Menschen! deine Kräfte willst
du ihr widmen? Kannst du sie ihr denn weigern?
Was du bist und was du besitzest, bist du ja nur,
besitzest du nur für sie. Hast du gegeben, was du
geben kannst, und was du allein ihr geben konn¬
test, so bist du auch nicht mehr, deine Gebrechlich¬
keit spricht dir das Urtheil, und sie ist es auch, die
es vollziehet. Aber wer ist denn diese Na¬
tur, diese Ordnung, wider welche ich klage?
Immerhin! Möchte sie, wie der Griechen Saturn,

ihre

„O machen Sie, daß mir das Wolkenbild hal¬
te, und ich will meine glühenden Arme darum ſchla¬
gen. Was für Freude kann es mir geben, Er¬
ſcheinungen zu beglücken, die morgen dahin ſeyn
werden, wie ich? — Iſt nicht alles Flucht um
mich herum? Alles ſtößt ſich und drängt ſeinen
Nachbar weg, aus dem Quell des Daſeyns einen
Tropfen eilend zu trinken, und lechzend davon zu
gehen. Jezt in dem Augenblick, wo ich meiner
Kraft mich freue, iſt ſchon ein werdendes Leben an
meine Verweſung angewieſen. Zeigen Sie mir ein
Weſen, das dauert, ſo will ich tugendhaft ſeyn.“

Was hat denn die wohlthätigen Empfindungen
verdrängt, die einſt der Genuß und die Richtſchnur
Ihres Lebens waren? Saaten für die Zukunft zu
pflanzen, einer hohen ewigen Ordnung zu
dienen —

„Dienen! Dienen gewiß, ſo gewiß als der
unbedeutendſte Mauerſtein der Simmetrie des Pal¬
laſtes, die auf ihm ruhet! Aber auch als ein mit¬
befragtes, mitgenießendes Weſen? Lieblicher gut¬
herziger Wahn des Menſchen! deine Kräfte willſt
du ihr widmen? Kannſt du ſie ihr denn weigern?
Was du biſt und was du beſitzeſt, biſt du ja nur,
beſitzeſt du nur für ſie. Haſt du gegeben, was du
geben kannſt, und was du allein ihr geben konn¬
teſt, ſo biſt du auch nicht mehr, deine Gebrechlich¬
keit ſpricht dir das Urtheil, und ſie iſt es auch, die
es vollziehet. Aber wer iſt denn dieſe Na¬
tur, dieſe Ordnung, wider welche ich klage?
Immerhin! Möchte ſie, wie der Griechen Saturn,

ihre
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0136" n="128"/>
            <p>&#x201E;O machen Sie, daß mir das Wolkenbild hal¬<lb/>
te, und ich will meine glühenden Arme darum &#x017F;chla¬<lb/>
gen. Was für Freude kann es mir geben, Er¬<lb/>
&#x017F;cheinungen zu beglücken, die morgen dahin &#x017F;eyn<lb/>
werden, wie ich? &#x2014; I&#x017F;t nicht alles Flucht um<lb/>
mich herum? Alles &#x017F;tößt &#x017F;ich und drängt &#x017F;einen<lb/>
Nachbar weg, aus dem Quell des Da&#x017F;eyns einen<lb/>
Tropfen eilend zu trinken, und lechzend davon zu<lb/>
gehen. Jezt in dem Augenblick, wo ich meiner<lb/>
Kraft mich freue, i&#x017F;t &#x017F;chon ein werdendes Leben an<lb/>
meine Verwe&#x017F;ung angewie&#x017F;en. Zeigen Sie mir ein<lb/>
We&#x017F;en, das dauert, &#x017F;o will ich tugendhaft &#x017F;eyn.&#x201C;</p><lb/>
            <p>Was hat denn die wohlthätigen Empfindungen<lb/>
verdrängt, die ein&#x017F;t der Genuß und die Richt&#x017F;chnur<lb/>
Ihres Lebens waren? Saaten für die Zukunft zu<lb/>
pflanzen, einer hohen ewigen Ordnung zu<lb/>
dienen &#x2014;</p><lb/>
            <p>&#x201E;Dienen! Dienen gewiß, &#x017F;o gewiß als der<lb/>
unbedeutend&#x017F;te Mauer&#x017F;tein der Simmetrie des Pal¬<lb/>
la&#x017F;tes, die auf ihm ruhet! Aber auch als ein mit¬<lb/>
befragtes, mitgenießendes We&#x017F;en? Lieblicher gut¬<lb/>
herziger Wahn des Men&#x017F;chen! deine Kräfte will&#x017F;t<lb/>
du ihr widmen? Kann&#x017F;t du &#x017F;ie ihr denn weigern?<lb/>
Was du bi&#x017F;t und was du be&#x017F;itze&#x017F;t, bi&#x017F;t du ja nur,<lb/>
be&#x017F;itze&#x017F;t du nur für &#x017F;ie. Ha&#x017F;t du gegeben, was du<lb/>
geben kann&#x017F;t, und was du allein ihr geben konn¬<lb/>
te&#x017F;t, &#x017F;o bi&#x017F;t du auch nicht mehr, deine Gebrechlich¬<lb/>
keit &#x017F;pricht dir das Urtheil, und &#x017F;ie i&#x017F;t es auch, die<lb/>
es vollziehet. Aber wer i&#x017F;t denn die&#x017F;e Na¬<lb/>
tur, die&#x017F;e Ordnung, wider welche ich klage?<lb/>
Immerhin! Möchte &#x017F;ie, wie der Griechen Saturn,<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">ihre<lb/></fw>
</p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[128/0136] „O machen Sie, daß mir das Wolkenbild hal¬ te, und ich will meine glühenden Arme darum ſchla¬ gen. Was für Freude kann es mir geben, Er¬ ſcheinungen zu beglücken, die morgen dahin ſeyn werden, wie ich? — Iſt nicht alles Flucht um mich herum? Alles ſtößt ſich und drängt ſeinen Nachbar weg, aus dem Quell des Daſeyns einen Tropfen eilend zu trinken, und lechzend davon zu gehen. Jezt in dem Augenblick, wo ich meiner Kraft mich freue, iſt ſchon ein werdendes Leben an meine Verweſung angewieſen. Zeigen Sie mir ein Weſen, das dauert, ſo will ich tugendhaft ſeyn.“ Was hat denn die wohlthätigen Empfindungen verdrängt, die einſt der Genuß und die Richtſchnur Ihres Lebens waren? Saaten für die Zukunft zu pflanzen, einer hohen ewigen Ordnung zu dienen — „Dienen! Dienen gewiß, ſo gewiß als der unbedeutendſte Mauerſtein der Simmetrie des Pal¬ laſtes, die auf ihm ruhet! Aber auch als ein mit¬ befragtes, mitgenießendes Weſen? Lieblicher gut¬ herziger Wahn des Menſchen! deine Kräfte willſt du ihr widmen? Kannſt du ſie ihr denn weigern? Was du biſt und was du beſitzeſt, biſt du ja nur, beſitzeſt du nur für ſie. Haſt du gegeben, was du geben kannſt, und was du allein ihr geben konn¬ teſt, ſo biſt du auch nicht mehr, deine Gebrechlich¬ keit ſpricht dir das Urtheil, und ſie iſt es auch, die es vollziehet. Aber wer iſt denn dieſe Na¬ tur, dieſe Ordnung, wider welche ich klage? Immerhin! Möchte ſie, wie der Griechen Saturn, ihre

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_geisterseher_1789
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_geisterseher_1789/136
Zitationshilfe: Schiller, Friedrich: Der Geisterseher. Leipzig, 1789, S. 128. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_geisterseher_1789/136>, abgerufen am 19.05.2024.