Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schiller, Friedrich: Der Geisterseher. Leipzig, 1789.

Bild:
<< vorherige Seite

"Er ist mehr als das," sagte der Prinz,
"er ist entscheidend. Diesen Ring empfing er von
dem Mörder, und er mußte in demselben Augenblick ge¬
wiß seyn, daß es der Mörder war. Wer als der
Mörder konnte dem Verstorbenen einen Ring ab¬
gezogen haben, den dieser gewiß nie vom Finger
ließ? Uns suchte er die ganze Erzählung hindurch
zu überreden, als ob er selbst von dem Ritter ge¬
täuscht worden, und als ob er geglaubt hätte ihn
zu täuschen. Wozu diesen Winkelzug, wenn er
nicht selbst bey sich fühlte, wie viel er verloren gab,
wenn er sein Verständniß mit dem Mörder ein¬
räumte? Seine ganze Erzählung ist offenbar
nichts, als eine Reihe von Erfindungen, um die
wenigen Wahrheiten an einander zu hängen, die
er uns preis zu geben für gut fand. Und ich soll¬
te größeres Bedenken tragen, einen Nichtswürdi¬
gen, den ich auf zehn Lügen ertappte, lieber auch
noch der eilften zu beschuldigen, als die Grundord¬
nung der Natur unterbrechen zu lassen, die ich noch
auf keinen Mißklang betrat?"

Ich kann Ihnen darauf nichts antworten, sag¬
te ich. Aber die Erscheinung, die wir gestern sa¬
hen, bleibt mir darum nicht weniger unbe¬
greiflich.

"Auch mir," versezte der Prinz, "ob ich gleich
in Versuchung gerathen bin, einen Schlüssel dazu
ausfindig zu machen."

Wie? sagte ich.

"Erinnern Sie sich nicht, daß die zwote Ge¬
stalt, sobald sie herein war, auf den Altar zuging,

das

„Er iſt mehr als das,“ ſagte der Prinz,
„er iſt entſcheidend. Dieſen Ring empfing er von
dem Mörder, und er mußte in demſelben Augenblick ge¬
wiß ſeyn, daß es der Mörder war. Wer als der
Mörder konnte dem Verſtorbenen einen Ring ab¬
gezogen haben, den dieſer gewiß nie vom Finger
ließ? Uns ſuchte er die ganze Erzählung hindurch
zu überreden, als ob er ſelbſt von dem Ritter ge¬
täuſcht worden, und als ob er geglaubt hätte ihn
zu täuſchen. Wozu dieſen Winkelzug, wenn er
nicht ſelbſt bey ſich fühlte, wie viel er verloren gab,
wenn er ſein Verſtändniß mit dem Mörder ein¬
räumte? Seine ganze Erzählung iſt offenbar
nichts, als eine Reihe von Erfindungen, um die
wenigen Wahrheiten an einander zu hängen, die
er uns preis zu geben für gut fand. Und ich ſoll¬
te größeres Bedenken tragen, einen Nichtswürdi¬
gen, den ich auf zehn Lügen ertappte, lieber auch
noch der eilften zu beſchuldigen, als die Grundord¬
nung der Natur unterbrechen zu laſſen, die ich noch
auf keinen Mißklang betrat?“

Ich kann Ihnen darauf nichts antworten, ſag¬
te ich. Aber die Erſcheinung, die wir geſtern ſa¬
hen, bleibt mir darum nicht weniger unbe¬
greiflich.

„Auch mir,“ verſezte der Prinz, „ob ich gleich
in Verſuchung gerathen bin, einen Schlüſſel dazu
ausfindig zu machen.“

Wie? ſagte ich.

„Erinnern Sie ſich nicht, daß die zwote Ge¬
ſtalt, ſobald ſie herein war, auf den Altar zuging,

das
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0086" n="78"/>
          <p>&#x201E;Er i&#x017F;t <hi rendition="#g">mehr</hi> als das,&#x201C; &#x017F;agte der Prinz,<lb/>
&#x201E;er i&#x017F;t ent&#x017F;cheidend. Die&#x017F;en Ring empfing er von<lb/>
dem Mörder, und er mußte in dem&#x017F;elben Augenblick ge¬<lb/>
wiß &#x017F;eyn, daß es der Mörder war. Wer als der<lb/>
Mörder konnte dem Ver&#x017F;torbenen einen Ring ab¬<lb/>
gezogen haben, den die&#x017F;er gewiß nie vom Finger<lb/>
ließ? Uns &#x017F;uchte er die ganze Erzählung hindurch<lb/>
zu überreden, als ob er &#x017F;elb&#x017F;t von dem Ritter ge¬<lb/>
täu&#x017F;cht worden, und als ob er geglaubt hätte ihn<lb/>
zu täu&#x017F;chen. Wozu die&#x017F;en Winkelzug, wenn er<lb/>
nicht &#x017F;elb&#x017F;t bey &#x017F;ich fühlte, wie viel er verloren gab,<lb/>
wenn er &#x017F;ein Ver&#x017F;tändniß mit dem Mörder ein¬<lb/>
räumte? Seine ganze Erzählung i&#x017F;t offenbar<lb/>
nichts, als eine Reihe von Erfindungen, um die<lb/>
wenigen Wahrheiten an einander zu hängen, die<lb/>
er uns preis zu geben für gut fand. Und ich &#x017F;oll¬<lb/>
te größeres Bedenken tragen, einen Nichtswürdi¬<lb/>
gen, den ich auf zehn Lügen ertappte, lieber auch<lb/>
noch der eilften zu be&#x017F;chuldigen, als die Grundord¬<lb/>
nung der Natur unterbrechen zu la&#x017F;&#x017F;en, die ich noch<lb/>
auf keinen Mißklang betrat?&#x201C;</p><lb/>
          <p>Ich kann Ihnen darauf nichts antworten, &#x017F;ag¬<lb/>
te ich. Aber die Er&#x017F;cheinung, die wir ge&#x017F;tern &#x017F;<lb/>
hen, bleibt mir darum nicht weniger unbe¬<lb/>
greiflich.</p><lb/>
          <p>&#x201E;Auch mir,&#x201C; ver&#x017F;ezte der Prinz, &#x201E;ob ich gleich<lb/>
in Ver&#x017F;uchung gerathen bin, einen Schlü&#x017F;&#x017F;el dazu<lb/>
ausfindig zu machen.&#x201C;</p><lb/>
          <p>Wie? &#x017F;agte ich.</p><lb/>
          <p>&#x201E;Erinnern Sie &#x017F;ich nicht, daß die zwote Ge¬<lb/>
&#x017F;talt, &#x017F;obald &#x017F;ie herein war, auf den Altar zuging,<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">das<lb/></fw>
</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[78/0086] „Er iſt mehr als das,“ ſagte der Prinz, „er iſt entſcheidend. Dieſen Ring empfing er von dem Mörder, und er mußte in demſelben Augenblick ge¬ wiß ſeyn, daß es der Mörder war. Wer als der Mörder konnte dem Verſtorbenen einen Ring ab¬ gezogen haben, den dieſer gewiß nie vom Finger ließ? Uns ſuchte er die ganze Erzählung hindurch zu überreden, als ob er ſelbſt von dem Ritter ge¬ täuſcht worden, und als ob er geglaubt hätte ihn zu täuſchen. Wozu dieſen Winkelzug, wenn er nicht ſelbſt bey ſich fühlte, wie viel er verloren gab, wenn er ſein Verſtändniß mit dem Mörder ein¬ räumte? Seine ganze Erzählung iſt offenbar nichts, als eine Reihe von Erfindungen, um die wenigen Wahrheiten an einander zu hängen, die er uns preis zu geben für gut fand. Und ich ſoll¬ te größeres Bedenken tragen, einen Nichtswürdi¬ gen, den ich auf zehn Lügen ertappte, lieber auch noch der eilften zu beſchuldigen, als die Grundord¬ nung der Natur unterbrechen zu laſſen, die ich noch auf keinen Mißklang betrat?“ Ich kann Ihnen darauf nichts antworten, ſag¬ te ich. Aber die Erſcheinung, die wir geſtern ſa¬ hen, bleibt mir darum nicht weniger unbe¬ greiflich. „Auch mir,“ verſezte der Prinz, „ob ich gleich in Verſuchung gerathen bin, einen Schlüſſel dazu ausfindig zu machen.“ Wie? ſagte ich. „Erinnern Sie ſich nicht, daß die zwote Ge¬ ſtalt, ſobald ſie herein war, auf den Altar zuging, das

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_geisterseher_1789
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_geisterseher_1789/86
Zitationshilfe: Schiller, Friedrich: Der Geisterseher. Leipzig, 1789, S. 78. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_geisterseher_1789/86>, abgerufen am 21.11.2024.