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Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung. [Tl. 2:] Die sentimentalischen Dichter. In: Die Horen 1795, 12. St., T. I., S. 1-55.

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lische Verkehrtheit erzeugen, welcher in einem Juvenal,
Lucian, Dante, Swift, Young, Rousseau, Haller und
andern zur Begeisterung wird. Die nehmlichen Dichter
würden und müßten mit demselben Glück auch in den rüh-
renden und zärtlichen Gattungen gedichtet haben, wenn
nicht zufällige Ursachen ihrem Gemüth frühe diese bestimm-
te Richtung gegeben hätten; auch haben sie es zum Theil
wirklich gethan. Alle die hier genannten lebten entweder
in einem ausgearteten Zeitalter und hatten eine schauder-
hafte Erfahrung moralischer Verderbniß vor Augen, oder
eigene Schicksale hatten Bitterkeit in ihre Seele gestreut.
Auch der philosophische Geist, da er mit unerbittlicher
Strenge den Schein von dem Wesen trennt, und in die
Tiefen der Dinge dringet, neigt das Gemüth zu dieser
Härte und Austerität, mit welcher Rousseau, Haller und
andre die Wirklichkeit mahlen. Aber diese äusern und zu-
fälligen Einflüsse, welche immer einschränkend wirken,
dürfen höchstens nur die Richtung bestimmen, niemals
den Innhalt der Begeisterung hergeben. Dieser muß in
allen derselbe seyn, und, rein von jedem äusern Bedürf-
niß, aus einem glühenden Triebe für das Ideal hervor-
fliessen, welcher durchaus der einzig wahre Beruf zu dem saty-
rischen wie überhaupt zu dem sentimentalischen Dichter ist.

Wenn die pathetische Satyre nur erhabene Seelen
kleidet, so kann die spottende Satyre nur einem schönen
Herzen gelingen. Denn jene ist schon durch ihren ernsten
Gegenstand vor der Frivolität gesichert; aber diese, die
nur einen moralisch gleichgültigen Stoff behandeln darf,
würde unvermeidlich darein verfallen, und jede poetische
Würde verlieren, wenn hier nicht die Behandlung den
Innhalt veredelte und das Subjekt des Dichters nicht

liſche Verkehrtheit erzeugen, welcher in einem Juvenal,
Lucian, Dante, Swift, Young, Rouſſeau, Haller und
andern zur Begeiſterung wird. Die nehmlichen Dichter
wuͤrden und muͤßten mit demſelben Gluͤck auch in den ruͤh-
renden und zaͤrtlichen Gattungen gedichtet haben, wenn
nicht zufaͤllige Urſachen ihrem Gemuͤth fruͤhe dieſe beſtimm-
te Richtung gegeben haͤtten; auch haben ſie es zum Theil
wirklich gethan. Alle die hier genannten lebten entweder
in einem ausgearteten Zeitalter und hatten eine ſchauder-
hafte Erfahrung moraliſcher Verderbniß vor Augen, oder
eigene Schickſale hatten Bitterkeit in ihre Seele geſtreut.
Auch der philoſophiſche Geiſt, da er mit unerbittlicher
Strenge den Schein von dem Weſen trennt, und in die
Tiefen der Dinge dringet, neigt das Gemuͤth zu dieſer
Haͤrte und Auſteritaͤt, mit welcher Rouſſeau, Haller und
andre die Wirklichkeit mahlen. Aber dieſe aͤuſern und zu-
faͤlligen Einfluͤſſe, welche immer einſchraͤnkend wirken,
duͤrfen hoͤchſtens nur die Richtung beſtimmen, niemals
den Innhalt der Begeiſterung hergeben. Dieſer muß in
allen derſelbe ſeyn, und, rein von jedem aͤuſern Beduͤrf-
niß, aus einem gluͤhenden Triebe fuͤr das Ideal hervor-
flieſſen, welcher durchaus der einzig wahre Beruf zu dem ſaty-
riſchen wie uͤberhaupt zu dem ſentimentaliſchen Dichter iſt.

Wenn die pathetiſche Satyre nur erhabene Seelen
kleidet, ſo kann die ſpottende Satyre nur einem ſchoͤnen
Herzen gelingen. Denn jene iſt ſchon durch ihren ernſten
Gegenſtand vor der Frivolitaͤt geſichert; aber dieſe, die
nur einen moraliſch gleichguͤltigen Stoff behandeln darf,
wuͤrde unvermeidlich darein verfallen, und jede poetiſche
Wuͤrde verlieren, wenn hier nicht die Behandlung den
Innhalt veredelte und das Subjekt des Dichters nicht

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[14/0021] liſche Verkehrtheit erzeugen, welcher in einem Juvenal, Lucian, Dante, Swift, Young, Rouſſeau, Haller und andern zur Begeiſterung wird. Die nehmlichen Dichter wuͤrden und muͤßten mit demſelben Gluͤck auch in den ruͤh- renden und zaͤrtlichen Gattungen gedichtet haben, wenn nicht zufaͤllige Urſachen ihrem Gemuͤth fruͤhe dieſe beſtimm- te Richtung gegeben haͤtten; auch haben ſie es zum Theil wirklich gethan. Alle die hier genannten lebten entweder in einem ausgearteten Zeitalter und hatten eine ſchauder- hafte Erfahrung moraliſcher Verderbniß vor Augen, oder eigene Schickſale hatten Bitterkeit in ihre Seele geſtreut. Auch der philoſophiſche Geiſt, da er mit unerbittlicher Strenge den Schein von dem Weſen trennt, und in die Tiefen der Dinge dringet, neigt das Gemuͤth zu dieſer Haͤrte und Auſteritaͤt, mit welcher Rouſſeau, Haller und andre die Wirklichkeit mahlen. Aber dieſe aͤuſern und zu- faͤlligen Einfluͤſſe, welche immer einſchraͤnkend wirken, duͤrfen hoͤchſtens nur die Richtung beſtimmen, niemals den Innhalt der Begeiſterung hergeben. Dieſer muß in allen derſelbe ſeyn, und, rein von jedem aͤuſern Beduͤrf- niß, aus einem gluͤhenden Triebe fuͤr das Ideal hervor- flieſſen, welcher durchaus der einzig wahre Beruf zu dem ſaty- riſchen wie uͤberhaupt zu dem ſentimentaliſchen Dichter iſt. Wenn die pathetiſche Satyre nur erhabene Seelen kleidet, ſo kann die ſpottende Satyre nur einem ſchoͤnen Herzen gelingen. Denn jene iſt ſchon durch ihren ernſten Gegenſtand vor der Frivolitaͤt geſichert; aber dieſe, die nur einen moraliſch gleichguͤltigen Stoff behandeln darf, wuͤrde unvermeidlich darein verfallen, und jede poetiſche Wuͤrde verlieren, wenn hier nicht die Behandlung den Innhalt veredelte und das Subjekt des Dichters nicht

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Zitationshilfe: Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung. [Tl. 2:] Die sentimentalischen Dichter. In: Die Horen 1795, 12. St., T. I., S. 1-55, hier S. 14. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_naive02_1795/21>, abgerufen am 29.03.2024.