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Schiller, Friedrich: Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? (Antrittsvorlesung in Jena, 26. 5. 1789 ). Jena, 1789.

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in der Weltgeschichte nur hie und da eine Welle be-
leuchtet wird. Da es ferner leicht geschehen kann,
daß der Zusammenhang einer entfernten Weltbegeben-
heit mit dem Zustand des laufenden Jahres früher in
die Augen fällt, als die Verbindung, worin sie mit
Ereignissen stehet, die ihr vorhergiengen oder gleichzei-
tig waren: so ist es ebenfalls unvermeidlich, daß Bege-
benheiten, die sich mit dem neuesten Zeitalter aufs ge-
naueste binden, in dem Zeitalter, dem sie eigentlich
angehören nicht selten isolirt erscheinen. Ein Fak-
tum dieser Art wäre z. B. der Ursprung des Chri-
stenthums und besonders der christlichen Sittenlehre.
Die christliche Religion hat an der gegenwärtigen Ge-
stalt der Welt einen so vielfältigen Antheil, daß ihre
Erscheinung das wichtigste Faktum für die Weltge-
schichte wird: aber weder in der Zeit, wo sie sich zeig-
te, noch in dem Volke, bey dem sie aufkam, liegt (aus
Mangel der Quellen) ein befriedigender Erklärungs-
grund ihrer Erscheinung.

So würde denn unsre Weltgeschichte nie etwas an-
ders als ein Aggregat von Bruchstücken werden, und
nie den Nahmen einer Wissenschaft verdienen. Jezt
also kommt ihr der philosophische Verstand zu Hülfe,
und, indem er diese Bruchstücke durch künstliche Bin-
dungsglieder verkettet, erhebt er das Aggregat zum
System, zu einem vernunftmäßig zusammenhängenden
Ganzen. Seine Beglaubigung dazu liegt in der Gleich-

förmig-

in der Weltgeſchichte nur hie und da eine Welle be-
leuchtet wird. Da es ferner leicht geſchehen kann,
daß der Zuſammenhang einer entfernten Weltbegeben-
heit mit dem Zuſtand des laufenden Jahres fruͤher in
die Augen faͤllt, als die Verbindung, worin ſie mit
Ereigniſſen ſtehet, die ihr vorhergiengen oder gleichzei-
tig waren: ſo iſt es ebenfalls unvermeidlich, daß Bege-
benheiten, die ſich mit dem neueſten Zeitalter aufs ge-
naueſte binden, in dem Zeitalter, dem ſie eigentlich
angehoͤren nicht ſelten iſolirt erſcheinen. Ein Fak-
tum dieſer Art waͤre z. B. der Urſprung des Chri-
ſtenthums und beſonders der chriſtlichen Sittenlehre.
Die chriſtliche Religion hat an der gegenwaͤrtigen Ge-
ſtalt der Welt einen ſo vielfaͤltigen Antheil, daß ihre
Erſcheinung das wichtigſte Faktum fuͤr die Weltge-
ſchichte wird: aber weder in der Zeit, wo ſie ſich zeig-
te, noch in dem Volke, bey dem ſie aufkam, liegt (aus
Mangel der Quellen) ein befriedigender Erklaͤrungs-
grund ihrer Erſcheinung.

So wuͤrde denn unſre Weltgeſchichte nie etwas an-
ders als ein Aggregat von Bruchſtuͤcken werden, und
nie den Nahmen einer Wiſſenſchaft verdienen. Jezt
alſo kommt ihr der philoſophiſche Verſtand zu Huͤlfe,
und, indem er dieſe Bruchſtuͤcke durch kuͤnſtliche Bin-
dungsglieder verkettet, erhebt er das Aggregat zum
Syſtem, zu einem vernunftmaͤßig zuſammenhaͤngenden
Ganzen. Seine Beglaubigung dazu liegt in der Gleich-

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[26/0028] in der Weltgeſchichte nur hie und da eine Welle be- leuchtet wird. Da es ferner leicht geſchehen kann, daß der Zuſammenhang einer entfernten Weltbegeben- heit mit dem Zuſtand des laufenden Jahres fruͤher in die Augen faͤllt, als die Verbindung, worin ſie mit Ereigniſſen ſtehet, die ihr vorhergiengen oder gleichzei- tig waren: ſo iſt es ebenfalls unvermeidlich, daß Bege- benheiten, die ſich mit dem neueſten Zeitalter aufs ge- naueſte binden, in dem Zeitalter, dem ſie eigentlich angehoͤren nicht ſelten iſolirt erſcheinen. Ein Fak- tum dieſer Art waͤre z. B. der Urſprung des Chri- ſtenthums und beſonders der chriſtlichen Sittenlehre. Die chriſtliche Religion hat an der gegenwaͤrtigen Ge- ſtalt der Welt einen ſo vielfaͤltigen Antheil, daß ihre Erſcheinung das wichtigſte Faktum fuͤr die Weltge- ſchichte wird: aber weder in der Zeit, wo ſie ſich zeig- te, noch in dem Volke, bey dem ſie aufkam, liegt (aus Mangel der Quellen) ein befriedigender Erklaͤrungs- grund ihrer Erſcheinung. So wuͤrde denn unſre Weltgeſchichte nie etwas an- ders als ein Aggregat von Bruchſtuͤcken werden, und nie den Nahmen einer Wiſſenſchaft verdienen. Jezt alſo kommt ihr der philoſophiſche Verſtand zu Huͤlfe, und, indem er dieſe Bruchſtuͤcke durch kuͤnſtliche Bin- dungsglieder verkettet, erhebt er das Aggregat zum Syſtem, zu einem vernunftmaͤßig zuſammenhaͤngenden Ganzen. Seine Beglaubigung dazu liegt in der Gleich- foͤrmig-

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Zitationshilfe: Schiller, Friedrich: Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? (Antrittsvorlesung in Jena, 26. 5. 1789 ). Jena, 1789, S. 26. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schiller_universalgeschichte_1789/28>, abgerufen am 27.04.2024.