Schlegel, August Wilhelm von; Schlegel, Friedrich von (Hrsg.): Athenaeum. Bd. 1. Berlin, 1798.Belesenheit in den besten Dichtern aller Art freylich müßte eine solche Poetik vorkommen, wie einem Kinde, das bildern wollte, ein trigonometrisches Buch. Die Philosophie über einen Gegenstand kann nur der brauchen, der den Gegenstand kennt, oder hat; nur der wird begreifen können, was sie will und meynt. Erfahrungen und Sinne kann die Philosophie nicht inokuliren oder anzaubern. Sie soll es aber auch nicht wollen. Wer es schon gewußt hat, der erfährt freylich nichts neues von ihr; doch wird es ihm erst durch sie ein Wissen und dadurch neu von Gestalt. Jn dem edleren und ursprünglichen Sinne des Worts Korrekt, da es absichtliche Durchbildung und Nebenausbildung des Jnnersten und Kleinsten im Werke nach dem Geist des Ganzen, praktische Reflexion des Künstlers, bedeutet, ist wohl kein moderner Dichter korrekter als Shakspeare. So ist er auch systematisch wie kein andrer: bald durch jene Antithesen, die Jndividuen, Massen, ja Welten in mahlerischen Gruppen kontrastiren lassen; bald durch musikalische Symmetrie desselben großen Maßstabes, durch gigantische Wiederholungen und Refrains; oft durch Parodie des Buchstabens und durch Jronie über den Geist des romantischen Drama und immer durch die höchste und vollständigste Jndividualität und die vielseitigste alle Stufen der Poesie von der sinnlichsten Nachahmung bis zur geistigsten Charakteristik vereinigende Darstellung derselben. Belesenheit in den besten Dichtern aller Art freylich muͤßte eine solche Poetik vorkommen, wie einem Kinde, das bildern wollte, ein trigonometrisches Buch. Die Philosophie uͤber einen Gegenstand kann nur der brauchen, der den Gegenstand kennt, oder hat; nur der wird begreifen koͤnnen, was sie will und meynt. Erfahrungen und Sinne kann die Philosophie nicht inokuliren oder anzaubern. Sie soll es aber auch nicht wollen. Wer es schon gewußt hat, der erfaͤhrt freylich nichts neues von ihr; doch wird es ihm erst durch sie ein Wissen und dadurch neu von Gestalt. Jn dem edleren und urspruͤnglichen Sinne des Worts Korrekt, da es absichtliche Durchbildung und Nebenausbildung des Jnnersten und Kleinsten im Werke nach dem Geist des Ganzen, praktische Reflexion des Kuͤnstlers, bedeutet, ist wohl kein moderner Dichter korrekter als Shakspeare. So ist er auch systematisch wie kein andrer: bald durch jene Antithesen, die Jndividuen, Massen, ja Welten in mahlerischen Gruppen kontrastiren lassen; bald durch musikalische Symmetrie desselben großen Maßstabes, durch gigantische Wiederholungen und Refrains; oft durch Parodie des Buchstabens und durch Jronie uͤber den Geist des romantischen Drama und immer durch die hoͤchste und vollstaͤndigste Jndividualitaͤt und die vielseitigste alle Stufen der Poesie von der sinnlichsten Nachahmung bis zur geistigsten Charakteristik vereinigende Darstellung derselben. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0259" n="70"/> Belesenheit in den besten Dichtern aller Art freylich muͤßte eine solche Poetik vorkommen, wie einem Kinde, das bildern wollte, ein trigonometrisches Buch. Die Philosophie uͤber einen Gegenstand kann nur der brauchen, der den Gegenstand kennt, oder hat; nur der wird begreifen koͤnnen, was sie will und meynt. Erfahrungen und Sinne kann die Philosophie nicht inokuliren oder anzaubern. Sie soll es aber auch nicht wollen. Wer es schon gewußt hat, der erfaͤhrt freylich nichts neues von ihr; doch wird es ihm erst durch sie ein Wissen und dadurch neu von Gestalt.</p><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> <p>Jn dem edleren und urspruͤnglichen Sinne des Worts Korrekt, da es absichtliche Durchbildung und Nebenausbildung des Jnnersten und Kleinsten im Werke nach dem Geist des Ganzen, praktische Reflexion des Kuͤnstlers, bedeutet, ist wohl kein moderner Dichter korrekter als Shakspeare. So ist er auch systematisch wie kein andrer: bald durch jene Antithesen, die Jndividuen, Massen, ja Welten in mahlerischen Gruppen kontrastiren lassen; bald durch musikalische Symmetrie desselben großen Maßstabes, durch gigantische Wiederholungen und Refrains; oft durch Parodie des Buchstabens und durch Jronie uͤber den Geist des romantischen Drama und immer durch die hoͤchste und vollstaͤndigste Jndividualitaͤt und die vielseitigste alle Stufen der Poesie von der sinnlichsten Nachahmung bis zur geistigsten Charakteristik vereinigende Darstellung derselben.</p><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [70/0259]
Belesenheit in den besten Dichtern aller Art freylich muͤßte eine solche Poetik vorkommen, wie einem Kinde, das bildern wollte, ein trigonometrisches Buch. Die Philosophie uͤber einen Gegenstand kann nur der brauchen, der den Gegenstand kennt, oder hat; nur der wird begreifen koͤnnen, was sie will und meynt. Erfahrungen und Sinne kann die Philosophie nicht inokuliren oder anzaubern. Sie soll es aber auch nicht wollen. Wer es schon gewußt hat, der erfaͤhrt freylich nichts neues von ihr; doch wird es ihm erst durch sie ein Wissen und dadurch neu von Gestalt.
Jn dem edleren und urspruͤnglichen Sinne des Worts Korrekt, da es absichtliche Durchbildung und Nebenausbildung des Jnnersten und Kleinsten im Werke nach dem Geist des Ganzen, praktische Reflexion des Kuͤnstlers, bedeutet, ist wohl kein moderner Dichter korrekter als Shakspeare. So ist er auch systematisch wie kein andrer: bald durch jene Antithesen, die Jndividuen, Massen, ja Welten in mahlerischen Gruppen kontrastiren lassen; bald durch musikalische Symmetrie desselben großen Maßstabes, durch gigantische Wiederholungen und Refrains; oft durch Parodie des Buchstabens und durch Jronie uͤber den Geist des romantischen Drama und immer durch die hoͤchste und vollstaͤndigste Jndividualitaͤt und die vielseitigste alle Stufen der Poesie von der sinnlichsten Nachahmung bis zur geistigsten Charakteristik vereinigende Darstellung derselben.
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