Schlegel, August Wilhelm von; Schlegel, Friedrich von (Hrsg.): Athenaeum. Bd. 1. Berlin, 1798.Noch ehe Hermann und Dorothee erschien, verglich man es mit Vossens Luise; die Erscheinung hätte der Vergleichung ein Ende machen sollen; allein sie wird jenem Gedicht immer noch richtig als Empfehlungsschreiben an das Publikum mit auf den Weg gegeben. Bey der Nachwelt wird es Luisen empfehlen können, daß sie Dorotheen zur Taufe gehalten hat. Je mehr die Poesie Wissenschaft wird, je mehr wird sie auch Kunst. Soll die Poesie Kunst werden, soll der Künstler von seinen Mitteln und seinen Zwecken, ihren Hindernissen und ihren Gegenständen gründliche Einsicht und Wissenschaft haben, so muß der Dichter über seine Kunst philosophiren. Soll er nicht bloß Erfinder und Arbeiter sondern auch Kenner in seinem Fache seyn, und seine Mitbürger im Reiche der Kunst verstehn können, so muß er auch Philolog werden. Der Grundirrthum der sophistischen Ästhetik ist der, die Schönheit bloß für einen gegebnen Gegenstand, für ein psychologisches Phänomen zu halten. Sie ist freylich nicht bloß der leere Gedanke von etwas was hervorgebracht werden soll, sondern zugleich die Sache selbst, eine der ursprünglichen Handlungsweisen des menschlichen Geistes; nicht bloß eine nothwendige Fikzion, sondern auch ein Faktum, nämlich ein ewiges transcendentales. Die Gesellschaften der Deutschen sind ernsthaft; ihre Komödien und Satiren sind ernsthaft; ihre Kritik Noch ehe Hermann und Dorothee erschien, verglich man es mit Vossens Luise; die Erscheinung haͤtte der Vergleichung ein Ende machen sollen; allein sie wird jenem Gedicht immer noch richtig als Empfehlungsschreiben an das Publikum mit auf den Weg gegeben. Bey der Nachwelt wird es Luisen empfehlen koͤnnen, daß sie Dorotheen zur Taufe gehalten hat. Je mehr die Poesie Wissenschaft wird, je mehr wird sie auch Kunst. Soll die Poesie Kunst werden, soll der Kuͤnstler von seinen Mitteln und seinen Zwecken, ihren Hindernissen und ihren Gegenstaͤnden gruͤndliche Einsicht und Wissenschaft haben, so muß der Dichter uͤber seine Kunst philosophiren. Soll er nicht bloß Erfinder und Arbeiter sondern auch Kenner in seinem Fache seyn, und seine Mitbuͤrger im Reiche der Kunst verstehn koͤnnen, so muß er auch Philolog werden. Der Grundirrthum der sophistischen Ästhetik ist der, die Schoͤnheit bloß fuͤr einen gegebnen Gegenstand, fuͤr ein psychologisches Phaͤnomen zu halten. Sie ist freylich nicht bloß der leere Gedanke von etwas was hervorgebracht werden soll, sondern zugleich die Sache selbst, eine der urspruͤnglichen Handlungsweisen des menschlichen Geistes; nicht bloß eine nothwendige Fikzion, sondern auch ein Faktum, naͤmlich ein ewiges transcendentales. Die Gesellschaften der Deutschen sind ernsthaft; ihre Komoͤdien und Satiren sind ernsthaft; ihre Kritik <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0260" n="71"/> <p>Noch ehe Hermann und Dorothee erschien, verglich man es mit Vossens Luise; die Erscheinung haͤtte der Vergleichung ein Ende machen sollen; allein sie wird jenem Gedicht immer noch richtig als Empfehlungsschreiben an das Publikum mit auf den Weg gegeben. Bey der Nachwelt wird es Luisen empfehlen koͤnnen, daß sie Dorotheen zur Taufe gehalten hat.</p><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> <p>Je mehr die Poesie Wissenschaft wird, je mehr wird sie auch Kunst. Soll die Poesie Kunst werden, soll der Kuͤnstler von seinen Mitteln und seinen Zwecken, ihren Hindernissen und ihren Gegenstaͤnden gruͤndliche Einsicht und Wissenschaft haben, so muß der Dichter uͤber seine Kunst philosophiren. Soll er nicht bloß Erfinder und Arbeiter sondern auch Kenner in seinem Fache seyn, und seine Mitbuͤrger im Reiche der Kunst verstehn koͤnnen, so muß er auch Philolog werden.</p><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> <p>Der Grundirrthum der sophistischen Ästhetik ist der, die Schoͤnheit bloß fuͤr einen gegebnen Gegenstand, fuͤr ein psychologisches Phaͤnomen zu halten. Sie ist freylich nicht bloß der leere Gedanke von etwas was hervorgebracht werden soll, sondern zugleich die Sache selbst, eine der urspruͤnglichen Handlungsweisen des menschlichen Geistes; nicht bloß eine nothwendige Fikzion, sondern auch ein Faktum, naͤmlich ein ewiges transcendentales.</p><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> <p>Die Gesellschaften der Deutschen sind ernsthaft; ihre Komoͤdien und Satiren sind ernsthaft; ihre Kritik<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [71/0260]
Noch ehe Hermann und Dorothee erschien, verglich man es mit Vossens Luise; die Erscheinung haͤtte der Vergleichung ein Ende machen sollen; allein sie wird jenem Gedicht immer noch richtig als Empfehlungsschreiben an das Publikum mit auf den Weg gegeben. Bey der Nachwelt wird es Luisen empfehlen koͤnnen, daß sie Dorotheen zur Taufe gehalten hat.
Je mehr die Poesie Wissenschaft wird, je mehr wird sie auch Kunst. Soll die Poesie Kunst werden, soll der Kuͤnstler von seinen Mitteln und seinen Zwecken, ihren Hindernissen und ihren Gegenstaͤnden gruͤndliche Einsicht und Wissenschaft haben, so muß der Dichter uͤber seine Kunst philosophiren. Soll er nicht bloß Erfinder und Arbeiter sondern auch Kenner in seinem Fache seyn, und seine Mitbuͤrger im Reiche der Kunst verstehn koͤnnen, so muß er auch Philolog werden.
Der Grundirrthum der sophistischen Ästhetik ist der, die Schoͤnheit bloß fuͤr einen gegebnen Gegenstand, fuͤr ein psychologisches Phaͤnomen zu halten. Sie ist freylich nicht bloß der leere Gedanke von etwas was hervorgebracht werden soll, sondern zugleich die Sache selbst, eine der urspruͤnglichen Handlungsweisen des menschlichen Geistes; nicht bloß eine nothwendige Fikzion, sondern auch ein Faktum, naͤmlich ein ewiges transcendentales.
Die Gesellschaften der Deutschen sind ernsthaft; ihre Komoͤdien und Satiren sind ernsthaft; ihre Kritik
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