Schlegel, August Wilhelm von; Schlegel, Friedrich von (Hrsg.): Athenaeum. Bd. 2. Berlin, 1799.Sie sollte es ganz seyn. Das kahle Köpfchen des Kindes ruht in zu ähnlicher Rundung daneben. Jhr andrer Arm ist über das Kind hingestreckt, um es zu halten. Die rothen sammtnen Aermel, die bis zur Hand reichen, sind verblichen, wie die Farben der übrigen Gewänder von Sonne und Staub angegriffen, was mit der äußersten Wahrheit ausgedrückt ist. Joseph sitzt höher am Felsen hin, so daß seine Gestalt über der Mutter hervorragt, und er so das traurige Schauspiel mit grade vor sich hin gesenktem Haupte übersieht. Es ist ein jüdisches braves Gesicht, eine hohe bleiche Stirn, deren Ecken sehr weit hinaufgehn. Die äußre Kraft scheint ihn, so krank er ist, weniger verlassen zu haben als die innre: in den Zügen des Gesichts ist die Unthätigkeit der Verzweiflung; die Hände haben noch Regsamkeit, wenn nur etwas da wäre, was sie ergreifen könnten, um die Mutter damit zu laben. Den Korb zur Seite füllt kein Vorrath weiter als Tücher und der Krug hat kein Wasser mehr. Jn der Ferne erscheint eine Brücke, aber vielleicht ist der Bach ausgetrocknet. Von der Felsenseite des Vorgrundes dehnt der Esel seinen geduldigen Hals hervor, und nagt an dem hölzernen Sattel, der ihm als Krippe hingestellt ist, aus der einzelne Halme Stroh ragen. Alles ist hier das treue Bild menschlicher Noth, kein göttlicher Funken darin, der sie erhebt, kein Leuchten der Hoffnung das sie mildert. Der mitleidige Blick wendet sich weg, bis er durch Ueberlegung besänftigt wiederkehrt, um die vollkommne Wahrheit in dieser Darstellung der leidenden irdischen Natur zu bewundern. Sie sollte es ganz seyn. Das kahle Koͤpfchen des Kindes ruht in zu aͤhnlicher Rundung daneben. Jhr andrer Arm ist uͤber das Kind hingestreckt, um es zu halten. Die rothen sammtnen Aermel, die bis zur Hand reichen, sind verblichen, wie die Farben der uͤbrigen Gewaͤnder von Sonne und Staub angegriffen, was mit der aͤußersten Wahrheit ausgedruͤckt ist. Joseph sitzt hoͤher am Felsen hin, so daß seine Gestalt uͤber der Mutter hervorragt, und er so das traurige Schauspiel mit grade vor sich hin gesenktem Haupte uͤbersieht. Es ist ein juͤdisches braves Gesicht, eine hohe bleiche Stirn, deren Ecken sehr weit hinaufgehn. Die aͤußre Kraft scheint ihn, so krank er ist, weniger verlassen zu haben als die innre: in den Zuͤgen des Gesichts ist die Unthaͤtigkeit der Verzweiflung; die Haͤnde haben noch Regsamkeit, wenn nur etwas da waͤre, was sie ergreifen koͤnnten, um die Mutter damit zu laben. Den Korb zur Seite fuͤllt kein Vorrath weiter als Tuͤcher und der Krug hat kein Wasser mehr. Jn der Ferne erscheint eine Bruͤcke, aber vielleicht ist der Bach ausgetrocknet. Von der Felsenseite des Vorgrundes dehnt der Esel seinen geduldigen Hals hervor, und nagt an dem hoͤlzernen Sattel, der ihm als Krippe hingestellt ist, aus der einzelne Halme Stroh ragen. Alles ist hier das treue Bild menschlicher Noth, kein goͤttlicher Funken darin, der sie erhebt, kein Leuchten der Hoffnung das sie mildert. Der mitleidige Blick wendet sich weg, bis er durch Ueberlegung besaͤnftigt wiederkehrt, um die vollkommne Wahrheit in dieser Darstellung der leidenden irdischen Natur zu bewundern. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0086" n="78"/> Sie sollte es ganz seyn. Das kahle Koͤpfchen des Kindes ruht in zu aͤhnlicher Rundung daneben. Jhr andrer Arm ist uͤber das Kind hingestreckt, um es zu halten. Die rothen sammtnen Aermel, die bis zur Hand reichen, sind verblichen, wie die Farben der uͤbrigen Gewaͤnder von Sonne und Staub angegriffen, was mit der aͤußersten Wahrheit ausgedruͤckt ist. Joseph sitzt hoͤher am Felsen hin, so daß seine Gestalt uͤber der Mutter hervorragt, und er so das traurige Schauspiel mit grade vor sich hin gesenktem Haupte uͤbersieht. Es ist ein juͤdisches braves Gesicht, eine hohe bleiche Stirn, deren Ecken sehr weit hinaufgehn. Die aͤußre Kraft scheint ihn, so krank er ist, weniger verlassen zu haben als die innre: in den Zuͤgen des Gesichts ist die Unthaͤtigkeit der Verzweiflung; die Haͤnde haben noch Regsamkeit, wenn nur etwas da waͤre, was sie ergreifen koͤnnten, um die Mutter damit zu laben. Den Korb zur Seite fuͤllt kein Vorrath weiter als Tuͤcher und der Krug hat kein Wasser mehr. Jn der Ferne erscheint eine Bruͤcke, aber vielleicht ist der Bach ausgetrocknet. Von der Felsenseite des Vorgrundes dehnt der Esel seinen geduldigen Hals hervor, und nagt an dem hoͤlzernen Sattel, der ihm als Krippe hingestellt ist, aus der einzelne Halme Stroh ragen. Alles ist hier das treue Bild menschlicher Noth, kein goͤttlicher Funken darin, der sie erhebt, kein Leuchten der Hoffnung das sie mildert. Der mitleidige Blick wendet sich weg, bis er durch Ueberlegung besaͤnftigt wiederkehrt, um die vollkommne Wahrheit in dieser Darstellung der leidenden irdischen Natur zu bewundern.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [78/0086]
Sie sollte es ganz seyn. Das kahle Koͤpfchen des Kindes ruht in zu aͤhnlicher Rundung daneben. Jhr andrer Arm ist uͤber das Kind hingestreckt, um es zu halten. Die rothen sammtnen Aermel, die bis zur Hand reichen, sind verblichen, wie die Farben der uͤbrigen Gewaͤnder von Sonne und Staub angegriffen, was mit der aͤußersten Wahrheit ausgedruͤckt ist. Joseph sitzt hoͤher am Felsen hin, so daß seine Gestalt uͤber der Mutter hervorragt, und er so das traurige Schauspiel mit grade vor sich hin gesenktem Haupte uͤbersieht. Es ist ein juͤdisches braves Gesicht, eine hohe bleiche Stirn, deren Ecken sehr weit hinaufgehn. Die aͤußre Kraft scheint ihn, so krank er ist, weniger verlassen zu haben als die innre: in den Zuͤgen des Gesichts ist die Unthaͤtigkeit der Verzweiflung; die Haͤnde haben noch Regsamkeit, wenn nur etwas da waͤre, was sie ergreifen koͤnnten, um die Mutter damit zu laben. Den Korb zur Seite fuͤllt kein Vorrath weiter als Tuͤcher und der Krug hat kein Wasser mehr. Jn der Ferne erscheint eine Bruͤcke, aber vielleicht ist der Bach ausgetrocknet. Von der Felsenseite des Vorgrundes dehnt der Esel seinen geduldigen Hals hervor, und nagt an dem hoͤlzernen Sattel, der ihm als Krippe hingestellt ist, aus der einzelne Halme Stroh ragen. Alles ist hier das treue Bild menschlicher Noth, kein goͤttlicher Funken darin, der sie erhebt, kein Leuchten der Hoffnung das sie mildert. Der mitleidige Blick wendet sich weg, bis er durch Ueberlegung besaͤnftigt wiederkehrt, um die vollkommne Wahrheit in dieser Darstellung der leidenden irdischen Natur zu bewundern.
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