tend, durch das ganze System ihrer Denkart und ihres Lebens fort hinschleicht; wir können, sage ich, den alten Indiern die Erkenntniß des wahren Gottes nicht füglich absprechen, da alle ihre alten Schriften voll sind von Sprüchen und Ausdrücken, die so würdig, klar, und er- haben, so tiefsinnig und sorgfältig unterscheidend und bedeutend sind, als menschliche Sprache nur überhaupt von Gott zu reden vermag. Wie kommt nun so hohe Weisheit zusammen mit der Fülle des Irrthums?
Was aber noch mehr Erstaunen erregen muß, als die reinsten Begriffe von der Gottheit in dem ältesten System des Aberglaubens zu finden, ist der damit verbundene Glaube an die Unsterblichkeit der Seele, der nicht bloße Wahr- scheinlichkeit war, durch langes Nachdenken all- mählig gefunden, oder ferne Dichtung von einer unbestimmten Schattenwelt, sondern feste und klare Gewißheit, so daß der Gedanke des andern Lebens herrschender Bestimmungsgrund aller Handlungen in diesem ward. Ziel und Seele der ganzen Verfassung, aller Gesetze und Ein- richtungen, bis auf die geringsten Gebräuche.
tend, durch das ganze Syſtem ihrer Denkart und ihres Lebens fort hinſchleicht; wir koͤnnen, ſage ich, den alten Indiern die Erkenntniß des wahren Gottes nicht fuͤglich abſprechen, da alle ihre alten Schriften voll ſind von Spruͤchen und Ausdruͤcken, die ſo wuͤrdig, klar, und er- haben, ſo tiefſinnig und ſorgfaͤltig unterſcheidend und bedeutend ſind, als menſchliche Sprache nur uͤberhaupt von Gott zu reden vermag. Wie kommt nun ſo hohe Weisheit zuſammen mit der Fuͤlle des Irrthums?
Was aber noch mehr Erſtaunen erregen muß, als die reinſten Begriffe von der Gottheit in dem aͤlteſten Syſtem des Aberglaubens zu finden, iſt der damit verbundene Glaube an die Unſterblichkeit der Seele, der nicht bloße Wahr- ſcheinlichkeit war, durch langes Nachdenken all- maͤhlig gefunden, oder ferne Dichtung von einer unbeſtimmten Schattenwelt, ſondern feſte und klare Gewißheit, ſo daß der Gedanke des andern Lebens herrſchender Beſtimmungsgrund aller Handlungen in dieſem ward. Ziel und Seele der ganzen Verfaſſung, aller Geſetze und Ein- richtungen, bis auf die geringſten Gebraͤuche.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0122"n="103"/>
tend, durch das ganze Syſtem ihrer Denkart<lb/>
und ihres Lebens fort hinſchleicht; wir koͤnnen,<lb/>ſage ich, den alten Indiern die Erkenntniß des<lb/>
wahren Gottes nicht fuͤglich abſprechen, da alle<lb/>
ihre alten Schriften voll ſind von Spruͤchen<lb/>
und Ausdruͤcken, die ſo wuͤrdig, klar, und er-<lb/>
haben, ſo tiefſinnig und ſorgfaͤltig unterſcheidend<lb/>
und bedeutend ſind, als menſchliche Sprache nur<lb/>
uͤberhaupt von Gott zu reden vermag. Wie<lb/>
kommt nun ſo hohe Weisheit zuſammen mit der<lb/>
Fuͤlle des Irrthums?</p><lb/><p>Was aber noch mehr Erſtaunen erregen<lb/>
muß, als die reinſten Begriffe von der Gottheit<lb/>
in dem aͤlteſten Syſtem des Aberglaubens zu<lb/>
finden, iſt der damit verbundene Glaube an die<lb/>
Unſterblichkeit der Seele, der nicht bloße Wahr-<lb/>ſcheinlichkeit war, durch langes Nachdenken all-<lb/>
maͤhlig gefunden, oder ferne Dichtung von einer<lb/>
unbeſtimmten Schattenwelt, ſondern feſte und<lb/>
klare Gewißheit, ſo daß der Gedanke des andern<lb/>
Lebens herrſchender Beſtimmungsgrund aller<lb/>
Handlungen in dieſem ward. Ziel und Seele<lb/>
der ganzen Verfaſſung, aller Geſetze und Ein-<lb/>
richtungen, bis auf die geringſten Gebraͤuche.</p><lb/></div></div></body></text></TEI>
[103/0122]
tend, durch das ganze Syſtem ihrer Denkart
und ihres Lebens fort hinſchleicht; wir koͤnnen,
ſage ich, den alten Indiern die Erkenntniß des
wahren Gottes nicht fuͤglich abſprechen, da alle
ihre alten Schriften voll ſind von Spruͤchen
und Ausdruͤcken, die ſo wuͤrdig, klar, und er-
haben, ſo tiefſinnig und ſorgfaͤltig unterſcheidend
und bedeutend ſind, als menſchliche Sprache nur
uͤberhaupt von Gott zu reden vermag. Wie
kommt nun ſo hohe Weisheit zuſammen mit der
Fuͤlle des Irrthums?
Was aber noch mehr Erſtaunen erregen
muß, als die reinſten Begriffe von der Gottheit
in dem aͤlteſten Syſtem des Aberglaubens zu
finden, iſt der damit verbundene Glaube an die
Unſterblichkeit der Seele, der nicht bloße Wahr-
ſcheinlichkeit war, durch langes Nachdenken all-
maͤhlig gefunden, oder ferne Dichtung von einer
unbeſtimmten Schattenwelt, ſondern feſte und
klare Gewißheit, ſo daß der Gedanke des andern
Lebens herrſchender Beſtimmungsgrund aller
Handlungen in dieſem ward. Ziel und Seele
der ganzen Verfaſſung, aller Geſetze und Ein-
richtungen, bis auf die geringſten Gebraͤuche.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Schlegel, Friedrich von: Ueber die Sprache und Weisheit der Indier. Heidelberg, 1808, S. 103. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schlegel_indier_1808/122>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.