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Schleiden, Matthias Jacob: Das Alter des Menschengeschlechts, die Entstehung der Arten und die Stellung des Menschen in der Natur. Leipzig, 1863.

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Erste Vorlesung.
klarsten Thatsachen verführt. -- Erst im XII. Jahrhundert fingen die
Juden an, sich allgemeiner der Rechnung nach Jahren der Welt zu be¬
dienen und selbst ihre, noch keineswegs über allen Zweifel erhobenen
Sagen schieben die erste Aufstellung dieser Zeitrechnung, überhaupt den
ersten Versuch, den Erzählungen des alten Testamentes, ihres Wider¬
strebens ungeachtet, eine feste Chronologie unterzulegen, nicht weiter
zurück als bis in die Mitte des IV. Jahrhunderts nach Christo, um
welche Zeit der Rabbi Hillel Ben Jehuda zu Tiberias diese neue Chro¬
nologie erfunden und aufgestellt haben soll. -- Thatsache ist, daß das
alte Testament zur Aufstellung einer festen Zeitrechnung überhaupt gar
keine
Grundlagen darbietet, weil die Juden selbst nie eine Zeitrech¬
nung gehabt hatten. Ist doch in der That das früheste Datum in der
ganzen Weltgeschichte, das früheste, welches wirklich wissenschaftlich
feststeht, der Beginn der Nabonassarschen Aera 747 vor Chr. Alles
was dem vorhergeht, verliert sich sehr bald in vage nur mehr oder we¬
niger wahrscheinliche Vermuthungen, unter denen nur einige Zeitbe¬
stimmungen aus der Aegyptischen Geschichte, die mit astronomischen
Thatsachen in Verbindung gebracht werden können, der Gewißheit
ziemlich nahe kommen.

Das unbeachtete Nachwirken des hier erwähnten Vorurtheils war
es eben, welches die Geognosten so lange blind machte gegen alle Ent¬
deckungen, wodurch die Existenz der Menschen auf der Erde in Zeit¬
räume versetzt wird, die weit über alle angeblichen Berechnungen von
dem Alter der Welt hinausgreifen. -- Wenn man die gewöhnlich an¬
gegebenen lächerlich kurzen Zeiträume von etwa 6000 Jahren als Ma߬
stab festhielt, so war es allerdings unbegreiflich wie die großen Verän¬
derungen, von denen die Erde Zeugniß ablegte, ohne unerklärbare plötz¬
liche Revolutionen vor sich gehen, wie der Mensch aus dem Zustande
eines sehr rohen Wilden zu den hohen Culturstufen, mit denen wir ihn
schon in dem Beginn der Geschichte auftreten sehen, sich hinauf bilden
konnte. Zum Glück sind wir aber jetzt im Stande, das alte Vorurtheil
in einer solchen Weise zu durchbrechen, daß es seinen ganzen Einfluß

Erſte Vorleſung.
klarſten Thatſachen verführt. — Erſt im XII. Jahrhundert fingen die
Juden an, ſich allgemeiner der Rechnung nach Jahren der Welt zu be¬
dienen und ſelbſt ihre, noch keineswegs über allen Zweifel erhobenen
Sagen ſchieben die erſte Aufſtellung dieſer Zeitrechnung, überhaupt den
erſten Verſuch, den Erzählungen des alten Teſtamentes, ihres Wider¬
ſtrebens ungeachtet, eine feſte Chronologie unterzulegen, nicht weiter
zurück als bis in die Mitte des IV. Jahrhunderts nach Chriſto, um
welche Zeit der Rabbi Hillel Ben Jehuda zu Tiberias dieſe neue Chro¬
nologie erfunden und aufgeſtellt haben ſoll. — Thatſache iſt, daß das
alte Teſtament zur Aufſtellung einer feſten Zeitrechnung überhaupt gar
keine
Grundlagen darbietet, weil die Juden ſelbſt nie eine Zeitrech¬
nung gehabt hatten. Iſt doch in der That das früheſte Datum in der
ganzen Weltgeſchichte, das früheſte, welches wirklich wiſſenſchaftlich
feſtſteht, der Beginn der Nabonaſſarſchen Aera 747 vor Chr. Alles
was dem vorhergeht, verliert ſich ſehr bald in vage nur mehr oder we¬
niger wahrſcheinliche Vermuthungen, unter denen nur einige Zeitbe¬
ſtimmungen aus der Aegyptiſchen Geſchichte, die mit aſtronomiſchen
Thatſachen in Verbindung gebracht werden können, der Gewißheit
ziemlich nahe kommen.

Das unbeachtete Nachwirken des hier erwähnten Vorurtheils war
es eben, welches die Geognoſten ſo lange blind machte gegen alle Ent¬
deckungen, wodurch die Exiſtenz der Menſchen auf der Erde in Zeit¬
räume verſetzt wird, die weit über alle angeblichen Berechnungen von
dem Alter der Welt hinausgreifen. — Wenn man die gewöhnlich an¬
gegebenen lächerlich kurzen Zeiträume von etwa 6000 Jahren als Ma߬
ſtab feſthielt, ſo war es allerdings unbegreiflich wie die großen Verän¬
derungen, von denen die Erde Zeugniß ablegte, ohne unerklärbare plötz¬
liche Revolutionen vor ſich gehen, wie der Menſch aus dem Zuſtande
eines ſehr rohen Wilden zu den hohen Culturſtufen, mit denen wir ihn
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[6/0016] Erſte Vorleſung. klarſten Thatſachen verführt. — Erſt im XII. Jahrhundert fingen die Juden an, ſich allgemeiner der Rechnung nach Jahren der Welt zu be¬ dienen und ſelbſt ihre, noch keineswegs über allen Zweifel erhobenen Sagen ſchieben die erſte Aufſtellung dieſer Zeitrechnung, überhaupt den erſten Verſuch, den Erzählungen des alten Teſtamentes, ihres Wider¬ ſtrebens ungeachtet, eine feſte Chronologie unterzulegen, nicht weiter zurück als bis in die Mitte des IV. Jahrhunderts nach Chriſto, um welche Zeit der Rabbi Hillel Ben Jehuda zu Tiberias dieſe neue Chro¬ nologie erfunden und aufgeſtellt haben ſoll. — Thatſache iſt, daß das alte Teſtament zur Aufſtellung einer feſten Zeitrechnung überhaupt gar keine Grundlagen darbietet, weil die Juden ſelbſt nie eine Zeitrech¬ nung gehabt hatten. Iſt doch in der That das früheſte Datum in der ganzen Weltgeſchichte, das früheſte, welches wirklich wiſſenſchaftlich feſtſteht, der Beginn der Nabonaſſarſchen Aera 747 vor Chr. Alles was dem vorhergeht, verliert ſich ſehr bald in vage nur mehr oder we¬ niger wahrſcheinliche Vermuthungen, unter denen nur einige Zeitbe¬ ſtimmungen aus der Aegyptiſchen Geſchichte, die mit aſtronomiſchen Thatſachen in Verbindung gebracht werden können, der Gewißheit ziemlich nahe kommen. Das unbeachtete Nachwirken des hier erwähnten Vorurtheils war es eben, welches die Geognoſten ſo lange blind machte gegen alle Ent¬ deckungen, wodurch die Exiſtenz der Menſchen auf der Erde in Zeit¬ räume verſetzt wird, die weit über alle angeblichen Berechnungen von dem Alter der Welt hinausgreifen. — Wenn man die gewöhnlich an¬ gegebenen lächerlich kurzen Zeiträume von etwa 6000 Jahren als Ma߬ ſtab feſthielt, ſo war es allerdings unbegreiflich wie die großen Verän¬ derungen, von denen die Erde Zeugniß ablegte, ohne unerklärbare plötz¬ liche Revolutionen vor ſich gehen, wie der Menſch aus dem Zuſtande eines ſehr rohen Wilden zu den hohen Culturſtufen, mit denen wir ihn ſchon in dem Beginn der Geſchichte auftreten ſehen, ſich hinauf bilden konnte. Zum Glück ſind wir aber jetzt im Stande, das alte Vorurtheil in einer ſolchen Weiſe zu durchbrechen, daß es ſeinen ganzen Einfluß

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Zitationshilfe: Schleiden, Matthias Jacob: Das Alter des Menschengeschlechts, die Entstehung der Arten und die Stellung des Menschen in der Natur. Leipzig, 1863, S. 6. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiden_menschengeschlecht_1863/16>, abgerufen am 21.11.2024.