Schleiden, Matthias Jacob: Das Alter des Menschengeschlechts, die Entstehung der Arten und die Stellung des Menschen in der Natur. Leipzig, 1863.Zweite Vorlesung. Entstehung und Feststellung mit in die Schöpfungsgeschichte verfloch¬ten. Der Schöpfungsgedanke gehört aber dem Glauben an, die zeit¬ liche Entwicklung und Veränderung des Geschaffenen, d. h. des in Zeit und Raum Eingetretenen, ist dagegen Aufgabe der Wissenschaft. Sobald nun die Geognosie die großen Verschiedenheiten der Geschöpfe in den verschiedenen sich folgenden Perioden der Erdbildung dargelegt und das Vorurtheil abgeworfen hatte, daß ein engbegrenzter Zeitraum die Entwicklungsgeschichte der Erde umschließe, so war auch die Ansicht von der Constanz der Arten als ein Irrthum nachgewiesen, an den fer¬ ner nur noch Unwissenheit oder große Beschränktheit glauben kann. Es bedurfte keiner Ausnahme mehr vom allgemeinen Bildungsgesetz der Begriffe für den Artbegriff und die allein richtige Bestimmung dessel¬ ben ist gegenwärtig die von Agassiz gegebene: "Zu einer Art gehört Alles, was sich durch Merkmale charakterisirt, die dem Menschen für eine gewisse längere Zeit als unveränderlich erscheinen". Die Ansicht, daß die Arten nichts Feststehendes, sondern etwas in Zweite Vorleſung. Entſtehung und Feſtſtellung mit in die Schöpfungsgeſchichte verfloch¬ten. Der Schöpfungsgedanke gehört aber dem Glauben an, die zeit¬ liche Entwicklung und Veränderung des Geſchaffenen, d. h. des in Zeit und Raum Eingetretenen, iſt dagegen Aufgabe der Wiſſenſchaft. Sobald nun die Geognoſie die großen Verſchiedenheiten der Geſchöpfe in den verſchiedenen ſich folgenden Perioden der Erdbildung dargelegt und das Vorurtheil abgeworfen hatte, daß ein engbegrenzter Zeitraum die Entwicklungsgeſchichte der Erde umſchließe, ſo war auch die Anſicht von der Conſtanz der Arten als ein Irrthum nachgewieſen, an den fer¬ ner nur noch Unwiſſenheit oder große Beſchränktheit glauben kann. Es bedurfte keiner Ausnahme mehr vom allgemeinen Bildungsgeſetz der Begriffe für den Artbegriff und die allein richtige Beſtimmung deſſel¬ ben iſt gegenwärtig die von Agaſſiz gegebene: „Zu einer Art gehört Alles, was ſich durch Merkmale charakteriſirt, die dem Menſchen für eine gewiſſe längere Zeit als unveränderlich erſcheinen“. Die Anſicht, daß die Arten nichts Feſtſtehendes, ſondern etwas in <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0048" n="38"/><fw place="top" type="header">Zweite Vorleſung.<lb/></fw>Entſtehung und Feſtſtellung mit in die Schöpfungsgeſchichte verfloch¬<lb/> ten. Der <hi rendition="#g">Schöpfungs</hi>gedanke gehört aber dem Glauben an, die zeit¬<lb/> liche Entwicklung und Veränderung des <hi rendition="#g">Geſchaffenen</hi>, d. h. des in<lb/> Zeit und Raum Eingetretenen, iſt dagegen Aufgabe der Wiſſenſchaft.<lb/> Sobald nun die Geognoſie die großen Verſchiedenheiten der Geſchöpfe<lb/> in den verſchiedenen ſich folgenden Perioden der Erdbildung dargelegt<lb/> und das Vorurtheil abgeworfen hatte, daß ein engbegrenzter Zeitraum<lb/> die Entwicklungsgeſchichte der Erde umſchließe, ſo war auch die Anſicht<lb/> von der Conſtanz der Arten als ein Irrthum nachgewieſen, an den fer¬<lb/> ner nur noch Unwiſſenheit oder große Beſchränktheit glauben kann. Es<lb/> bedurfte keiner Ausnahme mehr vom allgemeinen Bildungsgeſetz der<lb/> Begriffe für den Artbegriff und die allein richtige Beſtimmung deſſel¬<lb/> ben iſt gegenwärtig die von <hi rendition="#g">Agaſſiz</hi> gegebene: „Zu einer Art gehört<lb/> Alles, was ſich durch Merkmale charakteriſirt, die dem Menſchen für<lb/> eine gewiſſe längere Zeit als unveränderlich <hi rendition="#g">erſcheinen</hi>“.</p><lb/> <p>Die Anſicht, daß die Arten nichts Feſtſtehendes, ſondern etwas in<lb/> der Zeit Veränderliches ſeien, das die einen ausſterben, während ſich<lb/> andere aus ihnen entwickelt haben, iſt durchaus nicht neu; vielmehr<lb/> trat ſie ſogleich hervor, als richtigere geologiſche Erkenntniß am Ende<lb/> des vorigen Jahrhunderts von dem Bann einer mißverſtandenen Schö¬<lb/> pfungsgeſchichte und Zeitrechnung befreite. Zuerſt ſcheint der ältere<lb/><hi rendition="#g">Darwin</hi> (der Großvater des jetzt lebenden Geognoſten) 1794 und<lb/><hi rendition="#g">Geoffroy St</hi>. <hi rendition="#g">Hilaire</hi> 1795 jene Anſicht aufgeſtellt zu haben. Erſt<lb/> 1809 durch <hi rendition="#g">Lamarck</hi> und 1828 durch die heftigen Kämpfe <hi rendition="#g">G</hi>. <hi rendition="#g">St</hi>. <hi rendition="#g">Hi¬<lb/> laires</hi> gegen <hi rendition="#g">Cuvier</hi> in der Pariſer Akademie wurde der Angelegen¬<lb/> heit eine etwas allgemeinere Theilnahme zugewendet. Daß die beſſeren<lb/> Anſichten noch nicht durchdrangen, lag theils in fortwirkenden alten<lb/> Vorurtheilen, theils darin, daß jene Männer den richtigen Ausdruck<lb/> für den Vorgang der Umänderung der Arten noch nicht hatten finden<lb/> können. Auch ſpätere Entdeckungen, z. B. die Anerkennung natürlicher<lb/> Baſtarderzeugungen, der Steenſtrup'ſche Generationswechſel u. ſ. w.<lb/> halfen hier nicht, da man ſich nicht verhehlen konnte, daß dieſe Verhält¬<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [38/0048]
Zweite Vorleſung.
Entſtehung und Feſtſtellung mit in die Schöpfungsgeſchichte verfloch¬
ten. Der Schöpfungsgedanke gehört aber dem Glauben an, die zeit¬
liche Entwicklung und Veränderung des Geſchaffenen, d. h. des in
Zeit und Raum Eingetretenen, iſt dagegen Aufgabe der Wiſſenſchaft.
Sobald nun die Geognoſie die großen Verſchiedenheiten der Geſchöpfe
in den verſchiedenen ſich folgenden Perioden der Erdbildung dargelegt
und das Vorurtheil abgeworfen hatte, daß ein engbegrenzter Zeitraum
die Entwicklungsgeſchichte der Erde umſchließe, ſo war auch die Anſicht
von der Conſtanz der Arten als ein Irrthum nachgewieſen, an den fer¬
ner nur noch Unwiſſenheit oder große Beſchränktheit glauben kann. Es
bedurfte keiner Ausnahme mehr vom allgemeinen Bildungsgeſetz der
Begriffe für den Artbegriff und die allein richtige Beſtimmung deſſel¬
ben iſt gegenwärtig die von Agaſſiz gegebene: „Zu einer Art gehört
Alles, was ſich durch Merkmale charakteriſirt, die dem Menſchen für
eine gewiſſe längere Zeit als unveränderlich erſcheinen“.
Die Anſicht, daß die Arten nichts Feſtſtehendes, ſondern etwas in
der Zeit Veränderliches ſeien, das die einen ausſterben, während ſich
andere aus ihnen entwickelt haben, iſt durchaus nicht neu; vielmehr
trat ſie ſogleich hervor, als richtigere geologiſche Erkenntniß am Ende
des vorigen Jahrhunderts von dem Bann einer mißverſtandenen Schö¬
pfungsgeſchichte und Zeitrechnung befreite. Zuerſt ſcheint der ältere
Darwin (der Großvater des jetzt lebenden Geognoſten) 1794 und
Geoffroy St. Hilaire 1795 jene Anſicht aufgeſtellt zu haben. Erſt
1809 durch Lamarck und 1828 durch die heftigen Kämpfe G. St. Hi¬
laires gegen Cuvier in der Pariſer Akademie wurde der Angelegen¬
heit eine etwas allgemeinere Theilnahme zugewendet. Daß die beſſeren
Anſichten noch nicht durchdrangen, lag theils in fortwirkenden alten
Vorurtheilen, theils darin, daß jene Männer den richtigen Ausdruck
für den Vorgang der Umänderung der Arten noch nicht hatten finden
können. Auch ſpätere Entdeckungen, z. B. die Anerkennung natürlicher
Baſtarderzeugungen, der Steenſtrup'ſche Generationswechſel u. ſ. w.
halfen hier nicht, da man ſich nicht verhehlen konnte, daß dieſe Verhält¬
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |