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Schleiden, Matthias Jacob: Das Alter des Menschengeschlechts, die Entstehung der Arten und die Stellung des Menschen in der Natur. Leipzig, 1863.

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Ueber die Entstehung der Arten.
nisse doch viel zu besonderer und untergeordneter Natur seien, um ein
so allgemein die ganze Natur beherrschendes Gesetz zu begründen. --
Die Veränderlichkeit der Arten konnte in neuerer Zeit freilich nur noch
geognostische Unwissenheit läugnen, aber die Lehre blieb unfruchtbar,
so lange das "Wie" der Veränderung keinen richtigen Ausdruck gefun¬
den hatte.

Dieser letzten Anforderung genügte nun in ausgezeichneter Weise
Charles Darwin, bekannt durch seine Reise um die Welt und seine
geistreiche Theorie der Koralleninseln, und so kam es, daß sein zuerst
1859 in England erschienenes und 1860 nach der zweiten englischen
Ausgabe von Dr. H. G. Bronn ins Deutsche übertragenes Werk über
die Entstehung der Arten ein so großes Aufsehen machte und vielen
als etwas absolut Neues und Unerhörtes erschien.

Darwin's Theorie ist sehr einfach und gleicht fast dem Ei des
Columbus. Er geht von verhältnißmäßig wenigen ganz bekannten
und feststehenden Thatsachen aus, leitet daraus seine Schlüsse ab, oder
entwickelt vielmehr nur das allgemeine Gesetz, welches in jenen That¬
sachen schon liegt und stellt dann seine Ansicht mit solcher Sorgfalt und
Umsicht, mit so großem Umfang von Kenntnissen gegen alle Einwen¬
dungen sicher, daß sich irgend Erhebliches schwerlich gegen dieselben
noch vorbringen lassen wird.

Wir wissen, wie eben bereits erwähnt wurde, daß die Nachkommen
einer Pflanze oder eines Thieres stets in einzelnen Merkmalen sowohl
von ihren Eltern als unter einander abweichen und daß diese Abwei¬
chungen um so auffallender sind, wenn die Eltern vorher in äußere Le¬
bensverhältnisse versetzt wurden, die von denen ihnen früher naturge¬
mäßen mehr oder weniger abweichen. Wir wissen ferner, daß Abwei¬
chungen in einer bestimmten Richtung häufiger und stärker hervortreten
in einer dritten Generation, wenn zu ihrer Erzeugung ein Elternpaar
gewählt wurde, bei welchem gerade diese bestimmte Abweichung vor¬
herrschend war. Zeigt z. B. eine Pflanze einige Blüthen früher als die
Mutterpflanze, aus deren Samen sie gezogen ist und wir nehmen den
ferneren Samen von diesen früheren Blüthen, so werden die daraus

Ueber die Entſtehung der Arten.
niſſe doch viel zu beſonderer und untergeordneter Natur ſeien, um ein
ſo allgemein die ganze Natur beherrſchendes Geſetz zu begründen. —
Die Veränderlichkeit der Arten konnte in neuerer Zeit freilich nur noch
geognoſtiſche Unwiſſenheit läugnen, aber die Lehre blieb unfruchtbar,
ſo lange das „Wie“ der Veränderung keinen richtigen Ausdruck gefun¬
den hatte.

Dieſer letzten Anforderung genügte nun in ausgezeichneter Weiſe
Charles Darwin, bekannt durch ſeine Reiſe um die Welt und ſeine
geiſtreiche Theorie der Koralleninſeln, und ſo kam es, daß ſein zuerſt
1859 in England erſchienenes und 1860 nach der zweiten engliſchen
Ausgabe von Dr. H. G. Bronn ins Deutſche übertragenes Werk über
die Entſtehung der Arten ein ſo großes Aufſehen machte und vielen
als etwas abſolut Neues und Unerhörtes erſchien.

Darwin's Theorie iſt ſehr einfach und gleicht faſt dem Ei des
Columbus. Er geht von verhältnißmäßig wenigen ganz bekannten
und feſtſtehenden Thatſachen aus, leitet daraus ſeine Schlüſſe ab, oder
entwickelt vielmehr nur das allgemeine Geſetz, welches in jenen That¬
ſachen ſchon liegt und ſtellt dann ſeine Anſicht mit ſolcher Sorgfalt und
Umſicht, mit ſo großem Umfang von Kenntniſſen gegen alle Einwen¬
dungen ſicher, daß ſich irgend Erhebliches ſchwerlich gegen dieſelben
noch vorbringen laſſen wird.

Wir wiſſen, wie eben bereits erwähnt wurde, daß die Nachkommen
einer Pflanze oder eines Thieres ſtets in einzelnen Merkmalen ſowohl
von ihren Eltern als unter einander abweichen und daß dieſe Abwei¬
chungen um ſo auffallender ſind, wenn die Eltern vorher in äußere Le¬
bensverhältniſſe verſetzt wurden, die von denen ihnen früher naturge¬
mäßen mehr oder weniger abweichen. Wir wiſſen ferner, daß Abwei¬
chungen in einer beſtimmten Richtung häufiger und ſtärker hervortreten
in einer dritten Generation, wenn zu ihrer Erzeugung ein Elternpaar
gewählt wurde, bei welchem gerade dieſe beſtimmte Abweichung vor¬
herrſchend war. Zeigt z. B. eine Pflanze einige Blüthen früher als die
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[39/0049] Ueber die Entſtehung der Arten. niſſe doch viel zu beſonderer und untergeordneter Natur ſeien, um ein ſo allgemein die ganze Natur beherrſchendes Geſetz zu begründen. — Die Veränderlichkeit der Arten konnte in neuerer Zeit freilich nur noch geognoſtiſche Unwiſſenheit läugnen, aber die Lehre blieb unfruchtbar, ſo lange das „Wie“ der Veränderung keinen richtigen Ausdruck gefun¬ den hatte. Dieſer letzten Anforderung genügte nun in ausgezeichneter Weiſe Charles Darwin, bekannt durch ſeine Reiſe um die Welt und ſeine geiſtreiche Theorie der Koralleninſeln, und ſo kam es, daß ſein zuerſt 1859 in England erſchienenes und 1860 nach der zweiten engliſchen Ausgabe von Dr. H. G. Bronn ins Deutſche übertragenes Werk über die Entſtehung der Arten ein ſo großes Aufſehen machte und vielen als etwas abſolut Neues und Unerhörtes erſchien. Darwin's Theorie iſt ſehr einfach und gleicht faſt dem Ei des Columbus. Er geht von verhältnißmäßig wenigen ganz bekannten und feſtſtehenden Thatſachen aus, leitet daraus ſeine Schlüſſe ab, oder entwickelt vielmehr nur das allgemeine Geſetz, welches in jenen That¬ ſachen ſchon liegt und ſtellt dann ſeine Anſicht mit ſolcher Sorgfalt und Umſicht, mit ſo großem Umfang von Kenntniſſen gegen alle Einwen¬ dungen ſicher, daß ſich irgend Erhebliches ſchwerlich gegen dieſelben noch vorbringen laſſen wird. Wir wiſſen, wie eben bereits erwähnt wurde, daß die Nachkommen einer Pflanze oder eines Thieres ſtets in einzelnen Merkmalen ſowohl von ihren Eltern als unter einander abweichen und daß dieſe Abwei¬ chungen um ſo auffallender ſind, wenn die Eltern vorher in äußere Le¬ bensverhältniſſe verſetzt wurden, die von denen ihnen früher naturge¬ mäßen mehr oder weniger abweichen. Wir wiſſen ferner, daß Abwei¬ chungen in einer beſtimmten Richtung häufiger und ſtärker hervortreten in einer dritten Generation, wenn zu ihrer Erzeugung ein Elternpaar gewählt wurde, bei welchem gerade dieſe beſtimmte Abweichung vor¬ herrſchend war. Zeigt z. B. eine Pflanze einige Blüthen früher als die Mutterpflanze, aus deren Samen ſie gezogen iſt und wir nehmen den ferneren Samen von dieſen früheren Blüthen, ſo werden die daraus

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Zitationshilfe: Schleiden, Matthias Jacob: Das Alter des Menschengeschlechts, die Entstehung der Arten und die Stellung des Menschen in der Natur. Leipzig, 1863, S. 39. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiden_menschengeschlecht_1863/49>, abgerufen am 21.11.2024.