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Schleiden, Matthias Jacob: Die Pflanze und ihr Leben. Leipzig, 1848.

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jedem in sich selbst verständigten Menschen als eine unantastbare
Wahrheit. Aber er entwerthet diese Wahrheit nicht dadurch, daß er
sie in das Zeitliche und Räumliche oder gar in das blos Irdische
überträgt. Er fragt nicht bei dem Allmächtigen nach dem menschlich
beschränkten Wie der Vermittlung, nicht bei dem Ewigen, Zeitlosen,
nach der nur in der Zeit Platz greifenden Folge von Ursache und
Wirkung. -- Er weiß, daß, wo er die ihn umgebende Natur mit
Beobachtung oder Gedanken rückwärts oder vorwärts verfolgt, er
nur eine endlose Reihe von Veränderungen des Geschaffenen, aber
nie ein Entstehen, ein Vergehen finden kann.

Die einfach poetische Sage der Juden oder die sogenannte Schö-
pfungsgeschichte bewegt sich wie natürlich auf einem Standpunct, wo
das Rund der Erde noch den Blick des Menschen umfing, wo ihm
Sonne, Mond und Sterne nur freundliche Lichter waren, den Tag
zu erhellen, die Nacht zu verschönern. Naturbetrachtungen im Großen
und in einer großartigen Natur, noch unzerstreut durch die verwirrende
Menge der Einzelanschauungen, mochten früh schon dem gebildeten
Stand der ägyptischen Priester eine Ahnung erweckt haben, daß ge-
waltige Umwälzungen unsere Erde erst nach und nach zu dem Zu-
stande gebracht, in welchem wir sie jetzt finden. Es mochten sich hier
durch Nachdenken über das große Spiel der Naturkräfte bestimmtere
Ansichten gebildet haben über die allmälige Bildung der festen Erdrinde,
das Vorangehen der vegetabilischen Entwicklung von der thierischen und
das endliche Auftreten des Menschen als des vollkommensten Orga-
nismus, den wir auf Erden kennen, dem man billig das Unvollkomm-
nere stufenweise vorhergehen ließ. Diese Ansichten über die allmälige
Bildung der Erde, die dem damaligen Menschen noch mit der Welt
gleichbedeutend war, faßte einer der größten und genialsten Köpfe des
Alterthums, Moseh, mit seinem geläuterten und reinen Gottesglauben
zusammen und zeichnete sie unter dem Bilde der Weltschöpfung aus.
Aber nicht die wenigen Züge naturhistorischer Kenntniß, die sich darin
finden, sind das Großartige, das alle andern Sagen der Völker hoch
Ueberragende, sondern der Ausspruch: "die Welt ist nicht seit an-

jedem in ſich ſelbſt verſtändigten Menſchen als eine unantaſtbare
Wahrheit. Aber er entwerthet dieſe Wahrheit nicht dadurch, daß er
ſie in das Zeitliche und Räumliche oder gar in das blos Irdiſche
überträgt. Er fragt nicht bei dem Allmächtigen nach dem menſchlich
beſchränkten Wie der Vermittlung, nicht bei dem Ewigen, Zeitloſen,
nach der nur in der Zeit Platz greifenden Folge von Urſache und
Wirkung. — Er weiß, daß, wo er die ihn umgebende Natur mit
Beobachtung oder Gedanken rückwärts oder vorwärts verfolgt, er
nur eine endloſe Reihe von Veränderungen des Geſchaffenen, aber
nie ein Entſtehen, ein Vergehen finden kann.

Die einfach poetiſche Sage der Juden oder die ſogenannte Schö-
pfungsgeſchichte bewegt ſich wie natürlich auf einem Standpunct, wo
das Rund der Erde noch den Blick des Menſchen umfing, wo ihm
Sonne, Mond und Sterne nur freundliche Lichter waren, den Tag
zu erhellen, die Nacht zu verſchönern. Naturbetrachtungen im Großen
und in einer großartigen Natur, noch unzerſtreut durch die verwirrende
Menge der Einzelanſchauungen, mochten früh ſchon dem gebildeten
Stand der ägyptiſchen Prieſter eine Ahnung erweckt haben, daß ge-
waltige Umwälzungen unſere Erde erſt nach und nach zu dem Zu-
ſtande gebracht, in welchem wir ſie jetzt finden. Es mochten ſich hier
durch Nachdenken über das große Spiel der Naturkräfte beſtimmtere
Anſichten gebildet haben über die allmälige Bildung der feſten Erdrinde,
das Vorangehen der vegetabiliſchen Entwicklung von der thieriſchen und
das endliche Auftreten des Menſchen als des vollkommenſten Orga-
nismus, den wir auf Erden kennen, dem man billig das Unvollkomm-
nere ſtufenweiſe vorhergehen ließ. Dieſe Anſichten über die allmälige
Bildung der Erde, die dem damaligen Menſchen noch mit der Welt
gleichbedeutend war, faßte einer der größten und genialſten Köpfe des
Alterthums, Moſeh, mit ſeinem geläuterten und reinen Gottesglauben
zuſammen und zeichnete ſie unter dem Bilde der Weltſchöpfung aus.
Aber nicht die wenigen Züge naturhiſtoriſcher Kenntniß, die ſich darin
finden, ſind das Großartige, das alle andern Sagen der Völker hoch
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[253/0269] jedem in ſich ſelbſt verſtändigten Menſchen als eine unantaſtbare Wahrheit. Aber er entwerthet dieſe Wahrheit nicht dadurch, daß er ſie in das Zeitliche und Räumliche oder gar in das blos Irdiſche überträgt. Er fragt nicht bei dem Allmächtigen nach dem menſchlich beſchränkten Wie der Vermittlung, nicht bei dem Ewigen, Zeitloſen, nach der nur in der Zeit Platz greifenden Folge von Urſache und Wirkung. — Er weiß, daß, wo er die ihn umgebende Natur mit Beobachtung oder Gedanken rückwärts oder vorwärts verfolgt, er nur eine endloſe Reihe von Veränderungen des Geſchaffenen, aber nie ein Entſtehen, ein Vergehen finden kann. Die einfach poetiſche Sage der Juden oder die ſogenannte Schö- pfungsgeſchichte bewegt ſich wie natürlich auf einem Standpunct, wo das Rund der Erde noch den Blick des Menſchen umfing, wo ihm Sonne, Mond und Sterne nur freundliche Lichter waren, den Tag zu erhellen, die Nacht zu verſchönern. Naturbetrachtungen im Großen und in einer großartigen Natur, noch unzerſtreut durch die verwirrende Menge der Einzelanſchauungen, mochten früh ſchon dem gebildeten Stand der ägyptiſchen Prieſter eine Ahnung erweckt haben, daß ge- waltige Umwälzungen unſere Erde erſt nach und nach zu dem Zu- ſtande gebracht, in welchem wir ſie jetzt finden. Es mochten ſich hier durch Nachdenken über das große Spiel der Naturkräfte beſtimmtere Anſichten gebildet haben über die allmälige Bildung der feſten Erdrinde, das Vorangehen der vegetabiliſchen Entwicklung von der thieriſchen und das endliche Auftreten des Menſchen als des vollkommenſten Orga- nismus, den wir auf Erden kennen, dem man billig das Unvollkomm- nere ſtufenweiſe vorhergehen ließ. Dieſe Anſichten über die allmälige Bildung der Erde, die dem damaligen Menſchen noch mit der Welt gleichbedeutend war, faßte einer der größten und genialſten Köpfe des Alterthums, Moſeh, mit ſeinem geläuterten und reinen Gottesglauben zuſammen und zeichnete ſie unter dem Bilde der Weltſchöpfung aus. Aber nicht die wenigen Züge naturhiſtoriſcher Kenntniß, die ſich darin finden, ſind das Großartige, das alle andern Sagen der Völker hoch Ueberragende, ſondern der Ausſpruch: „die Welt iſt nicht ſeit an-

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Zitationshilfe: Schleiden, Matthias Jacob: Die Pflanze und ihr Leben. Leipzig, 1848, S. 253. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiden_pflanze_1848/269>, abgerufen am 21.11.2024.