Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schleiden, Matthias Jacob: Die Pflanze und ihr Leben. Leipzig, 1848.

Bild:
<< vorherige Seite

obscura auffängt. Jedes von dem Bilde getroffene Fäserchen fängt
gleichsam einen Punct desselben auf und bringt die Nachricht davon
zum Gehirn, wo die vorstellende Seele ihren Sitz hat und diese muß
sich dann aus allen diesen einzelnen Puncten erst das Bild construi-
ren. Ob aber richtig oder falsch construirt wird, hängt von der Ue-
bung und Ausbildung der Seele ab. -- Man könnte mir hier ein-
wenden, daß wir ja von dieser Construction gar kein Bewußtsein
haben und daß das Sehen daher doch wohl viel einfacher seyn müsse.
Indeß läßt sich leicht an einigen Beispielen zeigen, daß hier nur
die Uebung uns die Sache so leicht macht, daß wir uns der einzel-
nen Geistesthätigkeiten dabei gar nicht mehr bewußt werden. --
Das Kind, bei dem diese Uebung noch nicht Statt gefunden hat,
construirt daher auch häufig falsch, es greift nach den Sternen, wie
nach den glänzenden Knöpfen an dem Rocke des Vaters, es versucht
den fernen Mond auszublasen, wie es ihm mit dem Licht auf dem
Tische gelungen. -- Und dieselben Erscheinungen finden wir bei
Blindgebornen die operirt wurden; namentlich ist uns ein merkwür-
diger Fall der Art in den Annalen der Augenärzte aufbewahrt, wo
ein Blindgeborner erst in seinen spätern Lebensjahren, als er schon
genügende Bildung sich erworben um von den Vorgängen in seinem
Innern Rechenschaft zu geben, sein Augenlicht wieder erhielt und
nun ausführlich berichten konnte, wie er erst allmälig die verschiede-
nen Licht- und Farbenempfindungen zu einer geordneten Weltan-
schauung zusammensetzen lernte. Der entschiedenste Beweis für die
Richtigkeit der aufgestellten Behauptung liegt aber darin, daß wir,
wenn die Umstände verführerisch sind, falsch construiren, ohne daß
das Bild auf der Netzhaut dazu Veranlassung gegeben hätte. Der
Mond nämlich erscheint uns größer, wenn er aufgeht, als wenn er
über uns im dunkeln Luftmeere schwimmt. Messungen zeigen aber,
daß er beidemale in der That gleich groß ist, und daß sein Bild auf
der Netzhaut in beiden Fällen ebenfalls gleichen Durchmesser hat. --
Der Grund der falschen Construction liegt aber darin, daß wenn der
Mond am Horizont zwischen uns bekannten Hügeln, Bäumen oder

obſcura auffängt. Jedes von dem Bilde getroffene Fäſerchen fängt
gleichſam einen Punct deſſelben auf und bringt die Nachricht davon
zum Gehirn, wo die vorſtellende Seele ihren Sitz hat und dieſe muß
ſich dann aus allen dieſen einzelnen Puncten erſt das Bild conſtrui-
ren. Ob aber richtig oder falſch conſtruirt wird, hängt von der Ue-
bung und Ausbildung der Seele ab. — Man könnte mir hier ein-
wenden, daß wir ja von dieſer Conſtruction gar kein Bewußtſein
haben und daß das Sehen daher doch wohl viel einfacher ſeyn müſſe.
Indeß läßt ſich leicht an einigen Beiſpielen zeigen, daß hier nur
die Uebung uns die Sache ſo leicht macht, daß wir uns der einzel-
nen Geiſtesthätigkeiten dabei gar nicht mehr bewußt werden. —
Das Kind, bei dem dieſe Uebung noch nicht Statt gefunden hat,
conſtruirt daher auch häufig falſch, es greift nach den Sternen, wie
nach den glänzenden Knöpfen an dem Rocke des Vaters, es verſucht
den fernen Mond auszublaſen, wie es ihm mit dem Licht auf dem
Tiſche gelungen. — Und dieſelben Erſcheinungen finden wir bei
Blindgebornen die operirt wurden; namentlich iſt uns ein merkwür-
diger Fall der Art in den Annalen der Augenärzte aufbewahrt, wo
ein Blindgeborner erſt in ſeinen ſpätern Lebensjahren, als er ſchon
genügende Bildung ſich erworben um von den Vorgängen in ſeinem
Innern Rechenſchaft zu geben, ſein Augenlicht wieder erhielt und
nun ausführlich berichten konnte, wie er erſt allmälig die verſchiede-
nen Licht- und Farbenempfindungen zu einer geordneten Weltan-
ſchauung zuſammenſetzen lernte. Der entſchiedenſte Beweis für die
Richtigkeit der aufgeſtellten Behauptung liegt aber darin, daß wir,
wenn die Umſtände verführeriſch ſind, falſch conſtruiren, ohne daß
das Bild auf der Netzhaut dazu Veranlaſſung gegeben hätte. Der
Mond nämlich erſcheint uns größer, wenn er aufgeht, als wenn er
über uns im dunkeln Luftmeere ſchwimmt. Meſſungen zeigen aber,
daß er beidemale in der That gleich groß iſt, und daß ſein Bild auf
der Netzhaut in beiden Fällen ebenfalls gleichen Durchmeſſer hat. —
Der Grund der falſchen Conſtruction liegt aber darin, daß wenn der
Mond am Horizont zwiſchen uns bekannten Hügeln, Bäumen oder

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0037" n="21"/>
ob&#x017F;cura auffängt. Jedes von dem Bilde getroffene Fä&#x017F;erchen fängt<lb/>
gleich&#x017F;am einen Punct de&#x017F;&#x017F;elben auf und bringt die Nachricht davon<lb/>
zum Gehirn, wo die vor&#x017F;tellende Seele ihren Sitz hat und die&#x017F;e muß<lb/>
&#x017F;ich dann aus allen die&#x017F;en einzelnen Puncten er&#x017F;t das Bild con&#x017F;trui-<lb/>
ren. Ob aber richtig oder fal&#x017F;ch con&#x017F;truirt wird, hängt von der Ue-<lb/>
bung und Ausbildung der Seele ab. &#x2014; Man könnte mir hier ein-<lb/>
wenden, daß wir ja von die&#x017F;er Con&#x017F;truction gar kein Bewußt&#x017F;ein<lb/>
haben und daß das Sehen daher doch wohl viel einfacher &#x017F;eyn mü&#x017F;&#x017F;e.<lb/>
Indeß läßt &#x017F;ich leicht an einigen Bei&#x017F;pielen zeigen, daß hier nur<lb/>
die Uebung uns die Sache &#x017F;o leicht macht, daß wir uns der einzel-<lb/>
nen Gei&#x017F;testhätigkeiten dabei gar nicht mehr bewußt werden. &#x2014;<lb/>
Das Kind, bei dem die&#x017F;e Uebung noch nicht Statt gefunden hat,<lb/>
con&#x017F;truirt daher auch häufig fal&#x017F;ch, es greift nach den Sternen, wie<lb/>
nach den glänzenden Knöpfen an dem Rocke des Vaters, es ver&#x017F;ucht<lb/>
den fernen Mond auszubla&#x017F;en, wie es ihm mit dem Licht auf dem<lb/>
Ti&#x017F;che gelungen. &#x2014; Und die&#x017F;elben Er&#x017F;cheinungen finden wir bei<lb/>
Blindgebornen die operirt wurden; namentlich i&#x017F;t uns ein merkwür-<lb/>
diger Fall der Art in den Annalen der Augenärzte aufbewahrt, wo<lb/>
ein Blindgeborner er&#x017F;t in &#x017F;einen &#x017F;pätern Lebensjahren, als er &#x017F;chon<lb/>
genügende Bildung &#x017F;ich erworben um von den Vorgängen in &#x017F;einem<lb/>
Innern Rechen&#x017F;chaft zu geben, &#x017F;ein Augenlicht wieder erhielt und<lb/>
nun ausführlich berichten konnte, wie er er&#x017F;t allmälig die ver&#x017F;chiede-<lb/>
nen Licht- und Farbenempfindungen zu einer geordneten Weltan-<lb/>
&#x017F;chauung zu&#x017F;ammen&#x017F;etzen lernte. Der ent&#x017F;chieden&#x017F;te Beweis für die<lb/>
Richtigkeit der aufge&#x017F;tellten Behauptung liegt aber darin, daß wir,<lb/>
wenn die Um&#x017F;tände verführeri&#x017F;ch &#x017F;ind, fal&#x017F;ch con&#x017F;truiren, ohne daß<lb/>
das Bild auf der Netzhaut dazu Veranla&#x017F;&#x017F;ung gegeben hätte. Der<lb/>
Mond nämlich er&#x017F;cheint uns größer, wenn er aufgeht, als wenn er<lb/>
über uns im dunkeln Luftmeere &#x017F;chwimmt. Me&#x017F;&#x017F;ungen zeigen aber,<lb/>
daß er beidemale in der That gleich groß i&#x017F;t, und daß &#x017F;ein Bild auf<lb/>
der Netzhaut in beiden Fällen ebenfalls gleichen Durchme&#x017F;&#x017F;er hat. &#x2014;<lb/>
Der Grund der fal&#x017F;chen Con&#x017F;truction liegt aber darin, daß wenn der<lb/>
Mond am Horizont zwi&#x017F;chen uns bekannten Hügeln, Bäumen oder<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[21/0037] obſcura auffängt. Jedes von dem Bilde getroffene Fäſerchen fängt gleichſam einen Punct deſſelben auf und bringt die Nachricht davon zum Gehirn, wo die vorſtellende Seele ihren Sitz hat und dieſe muß ſich dann aus allen dieſen einzelnen Puncten erſt das Bild conſtrui- ren. Ob aber richtig oder falſch conſtruirt wird, hängt von der Ue- bung und Ausbildung der Seele ab. — Man könnte mir hier ein- wenden, daß wir ja von dieſer Conſtruction gar kein Bewußtſein haben und daß das Sehen daher doch wohl viel einfacher ſeyn müſſe. Indeß läßt ſich leicht an einigen Beiſpielen zeigen, daß hier nur die Uebung uns die Sache ſo leicht macht, daß wir uns der einzel- nen Geiſtesthätigkeiten dabei gar nicht mehr bewußt werden. — Das Kind, bei dem dieſe Uebung noch nicht Statt gefunden hat, conſtruirt daher auch häufig falſch, es greift nach den Sternen, wie nach den glänzenden Knöpfen an dem Rocke des Vaters, es verſucht den fernen Mond auszublaſen, wie es ihm mit dem Licht auf dem Tiſche gelungen. — Und dieſelben Erſcheinungen finden wir bei Blindgebornen die operirt wurden; namentlich iſt uns ein merkwür- diger Fall der Art in den Annalen der Augenärzte aufbewahrt, wo ein Blindgeborner erſt in ſeinen ſpätern Lebensjahren, als er ſchon genügende Bildung ſich erworben um von den Vorgängen in ſeinem Innern Rechenſchaft zu geben, ſein Augenlicht wieder erhielt und nun ausführlich berichten konnte, wie er erſt allmälig die verſchiede- nen Licht- und Farbenempfindungen zu einer geordneten Weltan- ſchauung zuſammenſetzen lernte. Der entſchiedenſte Beweis für die Richtigkeit der aufgeſtellten Behauptung liegt aber darin, daß wir, wenn die Umſtände verführeriſch ſind, falſch conſtruiren, ohne daß das Bild auf der Netzhaut dazu Veranlaſſung gegeben hätte. Der Mond nämlich erſcheint uns größer, wenn er aufgeht, als wenn er über uns im dunkeln Luftmeere ſchwimmt. Meſſungen zeigen aber, daß er beidemale in der That gleich groß iſt, und daß ſein Bild auf der Netzhaut in beiden Fällen ebenfalls gleichen Durchmeſſer hat. — Der Grund der falſchen Conſtruction liegt aber darin, daß wenn der Mond am Horizont zwiſchen uns bekannten Hügeln, Bäumen oder

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schleiden_pflanze_1848
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schleiden_pflanze_1848/37
Zitationshilfe: Schleiden, Matthias Jacob: Die Pflanze und ihr Leben. Leipzig, 1848, S. 21. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiden_pflanze_1848/37>, abgerufen am 03.12.2024.