[Schleiermacher bemerkt selbst am Rande seines Heftes, daß er im Jahre 1828 von §. 4. an den Vortrag geändert, indem er das materielle Element vorangenommen habe. Noch bedeutender ist die Veränderung schon von §. 3. an im Jahre 1832. Die Randanmerkungen geben aber weder für den Vortrag vom Jahre 1828, noch vom Jahre 1832 ein zusammen- hangendes deutliches Compendium oder auch nur Directorium. Die Ver- gleichung der nachgeschriebenen Hefte zeigt, daß der mündliche Vortrag seit 1828 immer unabhängiger von dem handschriftlichen Entwurf bald ab- kürzte und ausließ, bald erweiterte und neues aufnahm in immer anderer Ordnung. Unter diesen Umständen war es unmöglich, die bisher befolgte Methode der Composition beizubehalten. Um nichts wesentliches und bedeu- tendes zu verlieren, schien es rathsam, zuerst den Vortrag, wie Schleiermacher ihn 1819 concipirt hatte, vollständig mitzutheilen mit hie und da einge- schalteten Erläuterungen und Erörterungen aus der Vorlesung vom Jahre 1826, dann aber aus den nachgeschriebenen Heften den lezten, vollendetsten Vortrag vom Jahre 1832. in einem so viel möglich vollständigen Auszuge folgen zu lassen, was jezt geschieht.]
Wenn wir uns nach geschehener Anwendung des ersten Ka- nons auf das N. T. (§. 1. und 2.) in der grammatischen In- terpretation weiter orientiren, so ist der günstigste Fall der, daß wir nach gehöriger Vorbereitung, wozu die Übersicht des Gan- zen zu rechnen ist, bei fortschreitender Lesung im Einzelnen die einzelnen Elemente eines Sazes aus seinen Umgebungen un- mittelbar so bestimmen können, daß kein Zweifel ist, daß wir den Saz so aufgefaßt haben, wie der Verfasser ihn gedacht hat. Ist dieß aber nicht der Fall, dann müssen wir uns den ganzen Sprachwerth der in einem Saze verbundenen Elemente zu ver- gegenwärtigen suchen. Dazu bedienen wir uns des Lexikons. Man muß sich aber den Sprachwerth aller Elemente des Sazes vergegenwärtigen und nicht bloß des einen, wobei man anstößt, weil es oft vorkommen kann, daß wir nur an dem einen an- stoßen aus Unkenntniß eines andern Elements. Darum muß man alle untersuchen. Das hat freilich seine Ausnahmen, wenn man nemlich aus früherem Gebrauch und anderweitiger Übung in der Sprache das sichere Gefühl gewonnen hat, daß einem
[Schleiermacher bemerkt ſelbſt am Rande ſeines Heftes, daß er im Jahre 1828 von §. 4. an den Vortrag geaͤndert, indem er das materielle Element vorangenommen habe. Noch bedeutender iſt die Veraͤnderung ſchon von §. 3. an im Jahre 1832. Die Randanmerkungen geben aber weder fuͤr den Vortrag vom Jahre 1828, noch vom Jahre 1832 ein zuſammen- hangendes deutliches Compendium oder auch nur Directorium. Die Ver- gleichung der nachgeſchriebenen Hefte zeigt, daß der muͤndliche Vortrag ſeit 1828 immer unabhaͤngiger von dem handſchriftlichen Entwurf bald ab- kuͤrzte und ausließ, bald erweiterte und neues aufnahm in immer anderer Ordnung. Unter dieſen Umſtaͤnden war es unmoͤglich, die bisher befolgte Methode der Compoſition beizubehalten. Um nichts weſentliches und bedeu- tendes zu verlieren, ſchien es rathſam, zuerſt den Vortrag, wie Schleiermacher ihn 1819 concipirt hatte, vollſtaͤndig mitzutheilen mit hie und da einge- ſchalteten Erlaͤuterungen und Eroͤrterungen aus der Vorleſung vom Jahre 1826, dann aber aus den nachgeſchriebenen Heften den lezten, vollendetſten Vortrag vom Jahre 1832. in einem ſo viel moͤglich vollſtaͤndigen Auszuge folgen zu laſſen, was jezt geſchieht.]
Wenn wir uns nach geſchehener Anwendung des erſten Ka- nons auf das N. T. (§. 1. und 2.) in der grammatiſchen In- terpretation weiter orientiren, ſo iſt der guͤnſtigſte Fall der, daß wir nach gehoͤriger Vorbereitung, wozu die Überſicht des Gan- zen zu rechnen iſt, bei fortſchreitender Leſung im Einzelnen die einzelnen Elemente eines Sazes aus ſeinen Umgebungen un- mittelbar ſo beſtimmen koͤnnen, daß kein Zweifel iſt, daß wir den Saz ſo aufgefaßt haben, wie der Verfaſſer ihn gedacht hat. Iſt dieß aber nicht der Fall, dann muͤſſen wir uns den ganzen Sprachwerth der in einem Saze verbundenen Elemente zu ver- gegenwaͤrtigen ſuchen. Dazu bedienen wir uns des Lexikons. Man muß ſich aber den Sprachwerth aller Elemente des Sazes vergegenwaͤrtigen und nicht bloß des einen, wobei man anſtoͤßt, weil es oft vorkommen kann, daß wir nur an dem einen an- ſtoßen aus Unkenntniß eines andern Elements. Darum muß man alle unterſuchen. Das hat freilich ſeine Ausnahmen, wenn man nemlich aus fruͤherem Gebrauch und anderweitiger Übung in der Sprache das ſichere Gefuͤhl gewonnen hat, daß einem
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><pbfacs="#f0115"n="91"/><p>[Schleiermacher bemerkt ſelbſt am Rande ſeines Heftes, daß er im<lb/>
Jahre 1828 von §. 4. an den Vortrag geaͤndert, indem er das materielle<lb/>
Element vorangenommen habe. Noch bedeutender iſt die Veraͤnderung ſchon<lb/>
von §. 3. an im Jahre 1832. Die Randanmerkungen geben aber weder<lb/>
fuͤr den Vortrag vom Jahre 1828, noch vom Jahre 1832 ein zuſammen-<lb/>
hangendes deutliches Compendium oder auch nur Directorium. Die Ver-<lb/>
gleichung der nachgeſchriebenen Hefte zeigt, daß der muͤndliche Vortrag ſeit<lb/>
1828 immer unabhaͤngiger von dem handſchriftlichen Entwurf bald ab-<lb/>
kuͤrzte und ausließ, bald erweiterte und neues aufnahm in immer anderer<lb/>
Ordnung. Unter dieſen Umſtaͤnden war es unmoͤglich, die bisher befolgte<lb/>
Methode der Compoſition beizubehalten. Um nichts weſentliches und bedeu-<lb/>
tendes zu verlieren, ſchien es rathſam, zuerſt den Vortrag, wie Schleiermacher<lb/>
ihn 1819 concipirt hatte, vollſtaͤndig mitzutheilen mit hie und da einge-<lb/>ſchalteten Erlaͤuterungen und Eroͤrterungen aus der Vorleſung vom Jahre<lb/>
1826, dann aber aus den nachgeſchriebenen Heften den lezten, vollendetſten<lb/>
Vortrag vom Jahre 1832. in einem ſo viel moͤglich vollſtaͤndigen Auszuge<lb/>
folgen zu laſſen, was jezt geſchieht.]</p><lb/><p>Wenn wir uns nach geſchehener Anwendung des erſten Ka-<lb/>
nons auf das N. T. (§. 1. und 2.) in der grammatiſchen In-<lb/>
terpretation weiter orientiren, ſo iſt der guͤnſtigſte Fall der, daß<lb/>
wir nach gehoͤriger Vorbereitung, wozu die Überſicht des Gan-<lb/>
zen zu rechnen iſt, bei fortſchreitender Leſung im Einzelnen die<lb/>
einzelnen Elemente eines Sazes aus ſeinen Umgebungen un-<lb/>
mittelbar ſo beſtimmen koͤnnen, daß kein Zweifel iſt, daß wir<lb/>
den Saz ſo aufgefaßt haben, wie der Verfaſſer ihn gedacht hat.<lb/>
Iſt dieß aber nicht der Fall, dann muͤſſen wir uns den ganzen<lb/>
Sprachwerth der in einem Saze verbundenen Elemente zu ver-<lb/>
gegenwaͤrtigen ſuchen. Dazu bedienen wir uns des Lexikons.<lb/>
Man muß ſich aber den Sprachwerth <hirendition="#g">aller</hi> Elemente des Sazes<lb/>
vergegenwaͤrtigen und nicht bloß des einen, wobei man anſtoͤßt,<lb/>
weil es oft vorkommen kann, daß wir nur an dem einen an-<lb/>ſtoßen aus Unkenntniß eines andern Elements. Darum muß<lb/>
man alle unterſuchen. Das hat freilich ſeine Ausnahmen, wenn<lb/>
man nemlich aus fruͤherem Gebrauch und anderweitiger Übung<lb/>
in der Sprache das ſichere Gefuͤhl gewonnen hat, daß einem<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[91/0115]
[Schleiermacher bemerkt ſelbſt am Rande ſeines Heftes, daß er im
Jahre 1828 von §. 4. an den Vortrag geaͤndert, indem er das materielle
Element vorangenommen habe. Noch bedeutender iſt die Veraͤnderung ſchon
von §. 3. an im Jahre 1832. Die Randanmerkungen geben aber weder
fuͤr den Vortrag vom Jahre 1828, noch vom Jahre 1832 ein zuſammen-
hangendes deutliches Compendium oder auch nur Directorium. Die Ver-
gleichung der nachgeſchriebenen Hefte zeigt, daß der muͤndliche Vortrag ſeit
1828 immer unabhaͤngiger von dem handſchriftlichen Entwurf bald ab-
kuͤrzte und ausließ, bald erweiterte und neues aufnahm in immer anderer
Ordnung. Unter dieſen Umſtaͤnden war es unmoͤglich, die bisher befolgte
Methode der Compoſition beizubehalten. Um nichts weſentliches und bedeu-
tendes zu verlieren, ſchien es rathſam, zuerſt den Vortrag, wie Schleiermacher
ihn 1819 concipirt hatte, vollſtaͤndig mitzutheilen mit hie und da einge-
ſchalteten Erlaͤuterungen und Eroͤrterungen aus der Vorleſung vom Jahre
1826, dann aber aus den nachgeſchriebenen Heften den lezten, vollendetſten
Vortrag vom Jahre 1832. in einem ſo viel moͤglich vollſtaͤndigen Auszuge
folgen zu laſſen, was jezt geſchieht.]
Wenn wir uns nach geſchehener Anwendung des erſten Ka-
nons auf das N. T. (§. 1. und 2.) in der grammatiſchen In-
terpretation weiter orientiren, ſo iſt der guͤnſtigſte Fall der, daß
wir nach gehoͤriger Vorbereitung, wozu die Überſicht des Gan-
zen zu rechnen iſt, bei fortſchreitender Leſung im Einzelnen die
einzelnen Elemente eines Sazes aus ſeinen Umgebungen un-
mittelbar ſo beſtimmen koͤnnen, daß kein Zweifel iſt, daß wir
den Saz ſo aufgefaßt haben, wie der Verfaſſer ihn gedacht hat.
Iſt dieß aber nicht der Fall, dann muͤſſen wir uns den ganzen
Sprachwerth der in einem Saze verbundenen Elemente zu ver-
gegenwaͤrtigen ſuchen. Dazu bedienen wir uns des Lexikons.
Man muß ſich aber den Sprachwerth aller Elemente des Sazes
vergegenwaͤrtigen und nicht bloß des einen, wobei man anſtoͤßt,
weil es oft vorkommen kann, daß wir nur an dem einen an-
ſtoßen aus Unkenntniß eines andern Elements. Darum muß
man alle unterſuchen. Das hat freilich ſeine Ausnahmen, wenn
man nemlich aus fruͤherem Gebrauch und anderweitiger Übung
in der Sprache das ſichere Gefuͤhl gewonnen hat, daß einem
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 91. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/115>, abgerufen am 04.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.