ben und damit das Neue verbinden, oder den früheren jüdischen Gebrauchsweisen neue entgegenstellen. Das erste Verfahren ist das historische, wo die Anknüpfung, das andere das dialektische, wo das Entgegensezen dominirt. Das Charakteristische liegt hier nicht in der Person des Schreibenden oder Sprechenden. Jeder konnte nach den Umständen bald das eine bald das andere Verfahren beobachten. Die Verschiedenheit des Verfahrens giebt sich in der Form des Vorkommens zu erkennen. Der Ausleger hat darauf zu achten. So wird der jüdische Ausdruck dikaio- sune in der Bergpredigt in der ersten Art gebraucht, anknüpfend, in den Paulinischen Briefen aber dialektisch, polemisch. In der jüdischen Frömmigkeit hatte das Opfer eine große Bedeutung. Christliche Ansicht aber ist, daß alle Opfer durch Christus aufge- hoben sind. Diese konnte nun dargestellt werden, entweder indem man anknüpfend den Begriff des Opfers erweiterte, oder indem man denselben negirte und sagte, es bestehe jezt ein Verhältniß zwischen Gott und den Menschen, worin das Opfer seinen Ein- fluß verloren habe. Im N. T. ist das erstere Verfahren domini- rend, das andere nur Resultat desselben. -- Stellt man nun die Hauptbegriffe, worauf es hier ankommt, in allen Beziehun- gen zusammen, so muß man auch erkennen können, wie das N. T. jede Vorstellung nach der einen oder andern Methode ge- braucht. Am Ende beruht Alles auf einer Synthese alles ver- schiedenen Vorkommens. Eine Hauptschwierigkeit bei der Ausle- gung des N. T. macht auch in dieser Hinsicht immer, daß die historische Kritik noch nicht vollendet ist und noch so sehr viel streitiges enthält.
Bei den didaktischen Schriften hat dieß weniger zu bedeu- ten. Im Ganzen haben sie denselben Sprachgebrauch. Auf die persönliche Identität der Verfasser kommt weniger an, und selbst die Zeitdifferenz hat keinen großen Einfluß, da sie höchstens um eine Generation unterschieden sind, worin keine bedeutenden Fort- schritte oder Veränderungen Statt finden konnten. Nur Paulus hat sein eigenes Gebiet, aber bei ihm ist die Masse groß genug,
ben und damit das Neue verbinden, oder den fruͤheren juͤdiſchen Gebrauchsweiſen neue entgegenſtellen. Das erſte Verfahren iſt das hiſtoriſche, wo die Anknuͤpfung, das andere das dialektiſche, wo das Entgegenſezen dominirt. Das Charakteriſtiſche liegt hier nicht in der Perſon des Schreibenden oder Sprechenden. Jeder konnte nach den Umſtaͤnden bald das eine bald das andere Verfahren beobachten. Die Verſchiedenheit des Verfahrens giebt ſich in der Form des Vorkommens zu erkennen. Der Ausleger hat darauf zu achten. So wird der juͤdiſche Ausdruck διϰαιο- σύνη in der Bergpredigt in der erſten Art gebraucht, anknuͤpfend, in den Pauliniſchen Briefen aber dialektiſch, polemiſch. In der juͤdiſchen Froͤmmigkeit hatte das Opfer eine große Bedeutung. Chriſtliche Anſicht aber iſt, daß alle Opfer durch Chriſtus aufge- hoben ſind. Dieſe konnte nun dargeſtellt werden, entweder indem man anknuͤpfend den Begriff des Opfers erweiterte, oder indem man denſelben negirte und ſagte, es beſtehe jezt ein Verhaͤltniß zwiſchen Gott und den Menſchen, worin das Opfer ſeinen Ein- fluß verloren habe. Im N. T. iſt das erſtere Verfahren domini- rend, das andere nur Reſultat deſſelben. — Stellt man nun die Hauptbegriffe, worauf es hier ankommt, in allen Beziehun- gen zuſammen, ſo muß man auch erkennen koͤnnen, wie das N. T. jede Vorſtellung nach der einen oder andern Methode ge- braucht. Am Ende beruht Alles auf einer Syntheſe alles ver- ſchiedenen Vorkommens. Eine Hauptſchwierigkeit bei der Ausle- gung des N. T. macht auch in dieſer Hinſicht immer, daß die hiſtoriſche Kritik noch nicht vollendet iſt und noch ſo ſehr viel ſtreitiges enthaͤlt.
Bei den didaktiſchen Schriften hat dieß weniger zu bedeu- ten. Im Ganzen haben ſie denſelben Sprachgebrauch. Auf die perſoͤnliche Identitaͤt der Verfaſſer kommt weniger an, und ſelbſt die Zeitdifferenz hat keinen großen Einfluß, da ſie hoͤchſtens um eine Generation unterſchieden ſind, worin keine bedeutenden Fort- ſchritte oder Veraͤnderungen Statt finden konnten. Nur Paulus hat ſein eigenes Gebiet, aber bei ihm iſt die Maſſe groß genug,
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ben und damit das Neue verbinden, oder den fruͤheren juͤdiſchen
Gebrauchsweiſen neue entgegenſtellen. Das erſte Verfahren iſt
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wo das Entgegenſezen dominirt. Das Charakteriſtiſche liegt
hier nicht in der Perſon des Schreibenden oder Sprechenden.
Jeder konnte nach den Umſtaͤnden bald das eine bald das andere
Verfahren beobachten. Die Verſchiedenheit des Verfahrens giebt
ſich in der Form des Vorkommens zu erkennen. Der Ausleger
hat darauf zu achten. So wird der juͤdiſche Ausdruck διϰαιο-
σύνη in der Bergpredigt in der erſten Art gebraucht, anknuͤpfend,
in den Pauliniſchen Briefen aber dialektiſch, polemiſch. In der
juͤdiſchen Froͤmmigkeit hatte das Opfer eine große Bedeutung.
Chriſtliche Anſicht aber iſt, daß alle Opfer durch Chriſtus aufge-
hoben ſind. Dieſe konnte nun dargeſtellt werden, entweder indem
man anknuͤpfend den Begriff des Opfers erweiterte, oder indem
man denſelben negirte und ſagte, es beſtehe jezt ein Verhaͤltniß
zwiſchen Gott und den Menſchen, worin das Opfer ſeinen Ein-
fluß verloren habe. Im N. T. iſt das erſtere Verfahren domini-
rend, das andere nur Reſultat deſſelben. — Stellt man nun
die Hauptbegriffe, worauf es hier ankommt, in allen Beziehun-
gen zuſammen, ſo muß man auch erkennen koͤnnen, wie das
N. T. jede Vorſtellung nach der einen oder andern Methode ge-
braucht. Am Ende beruht Alles auf einer Syntheſe alles ver-
ſchiedenen Vorkommens. Eine Hauptſchwierigkeit bei der Ausle-
gung des N. T. macht auch in dieſer Hinſicht immer, daß die
hiſtoriſche Kritik noch nicht vollendet iſt und noch ſo ſehr viel
ſtreitiges enthaͤlt.
Bei den didaktiſchen Schriften hat dieß weniger zu bedeu-
ten. Im Ganzen haben ſie denſelben Sprachgebrauch. Auf die
perſoͤnliche Identitaͤt der Verfaſſer kommt weniger an, und ſelbſt
die Zeitdifferenz hat keinen großen Einfluß, da ſie hoͤchſtens um
eine Generation unterſchieden ſind, worin keine bedeutenden Fort-
ſchritte oder Veraͤnderungen Statt finden konnten. Nur Paulus
hat ſein eigenes Gebiet, aber bei ihm iſt die Maſſe groß genug,
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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 139. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/163>, abgerufen am 04.12.2024.
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