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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838.

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es geschehen, daß ein rhetorischer Zweck sich verbirgt, besonders
in der brieflichen Mittheilung. In der mündlichen Rede viel
weniger, weil in dieser der Erfolg momentan ist. Die briefliche
Mittheilung ist nicht so bestimmend wie die mündliche Rede; der
Empfänger des Briefes hat Zeit, auf die Art, wie er bestimmt
sei, zurückzugehen, was bei der mündlichen Rede der Hörer nicht
kann. Die Absicht muß sich also um so mehr verbergen, je ver-
schiedener die beiderseitigen Interessen sind.

Im N. T. ist der Fall eigentlich nicht zu denken, daß der
didaktische und rhetorische Zweck sich so zu verbergen nöthig gehabt.
Es ist den Verhältnissen entsprechend, daß die Schreibenden be-
lehren und die Lesenden belehrt sein wollen. Auch im Falle
eines rhetorischen Zweckes ist an ein Verbergen desselben nicht
gut zu denken, da zwischen den Interessen der Schreibenden und
Empfangenden kein Widerspruch ist, beider Verhältnisse auf glei-
chem Interesse beruhen. Selbst, wenn ein neutest. Schriftsteller
einmal ein eigentliches Privatinteresse haben sollte, ist niemals ein
Verbergenwollen natürlich. Von diesen Schwierigkeiten fern, ist
im N. T. die Aufgabe nur die, von jeder Schrift zu bestimmen,
ob sie mehr didaktisch oder rhetorisch sei, ob sie also eine stren-
gere Einheit habe, oder mehr auf dem Gebiete der freien Mitthei-
lung liege. Die Entscheidung darüber geht aus der allgemeinen
Übersicht hervor. Man kann sich denken, daß eine bestimmte di-
daktische oder rhetorische Einheit eigentlich das Motif ist, aber
daß sich so die Lust und Fähigkeit zur Mittheilung noch nicht er-
schöpft hat, daß eine Einheit unbestimmter Art hinzukömmt, oder
daß ein Brief mit einem bestimmten Zwecke anfängt, und wenn
dieser erreicht ist, als freie Mittheilung fortdauert. Es kann auch
der umgekehrte Fall eintreten, daß eine freie Mittheilung in einen
bestimmteren Zweck und strengere Einheit übergeht. So kann also
beides ineinander übergehen. Geht man nun mit dem Voraus-
bewußtsein einer solchen Verschiedenheit an einen Brief, so fragt
sich, woran das eine oder andere zu erkennen sei? Die bestimmte
Einheit ist zu erkennen an der Zusammenstellung einzelner Ele-

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es geſchehen, daß ein rhetoriſcher Zweck ſich verbirgt, beſonders
in der brieflichen Mittheilung. In der muͤndlichen Rede viel
weniger, weil in dieſer der Erfolg momentan iſt. Die briefliche
Mittheilung iſt nicht ſo beſtimmend wie die muͤndliche Rede; der
Empfaͤnger des Briefes hat Zeit, auf die Art, wie er beſtimmt
ſei, zuruͤckzugehen, was bei der muͤndlichen Rede der Hoͤrer nicht
kann. Die Abſicht muß ſich alſo um ſo mehr verbergen, je ver-
ſchiedener die beiderſeitigen Intereſſen ſind.

Im N. T. iſt der Fall eigentlich nicht zu denken, daß der
didaktiſche und rhetoriſche Zweck ſich ſo zu verbergen noͤthig gehabt.
Es iſt den Verhaͤltniſſen entſprechend, daß die Schreibenden be-
lehren und die Leſenden belehrt ſein wollen. Auch im Falle
eines rhetoriſchen Zweckes iſt an ein Verbergen deſſelben nicht
gut zu denken, da zwiſchen den Intereſſen der Schreibenden und
Empfangenden kein Widerſpruch iſt, beider Verhaͤltniſſe auf glei-
chem Intereſſe beruhen. Selbſt, wenn ein neuteſt. Schriftſteller
einmal ein eigentliches Privatintereſſe haben ſollte, iſt niemals ein
Verbergenwollen natuͤrlich. Von dieſen Schwierigkeiten fern, iſt
im N. T. die Aufgabe nur die, von jeder Schrift zu beſtimmen,
ob ſie mehr didaktiſch oder rhetoriſch ſei, ob ſie alſo eine ſtren-
gere Einheit habe, oder mehr auf dem Gebiete der freien Mitthei-
lung liege. Die Entſcheidung daruͤber geht aus der allgemeinen
Überſicht hervor. Man kann ſich denken, daß eine beſtimmte di-
daktiſche oder rhetoriſche Einheit eigentlich das Motif iſt, aber
daß ſich ſo die Luſt und Faͤhigkeit zur Mittheilung noch nicht er-
ſchoͤpft hat, daß eine Einheit unbeſtimmter Art hinzukoͤmmt, oder
daß ein Brief mit einem beſtimmten Zwecke anfaͤngt, und wenn
dieſer erreicht iſt, als freie Mittheilung fortdauert. Es kann auch
der umgekehrte Fall eintreten, daß eine freie Mittheilung in einen
beſtimmteren Zweck und ſtrengere Einheit uͤbergeht. So kann alſo
beides ineinander uͤbergehen. Geht man nun mit dem Voraus-
bewußtſein einer ſolchen Verſchiedenheit an einen Brief, ſo fragt
ſich, woran das eine oder andere zu erkennen ſei? Die beſtimmte
Einheit iſt zu erkennen an der Zuſammenſtellung einzelner Ele-

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[179/0203] es geſchehen, daß ein rhetoriſcher Zweck ſich verbirgt, beſonders in der brieflichen Mittheilung. In der muͤndlichen Rede viel weniger, weil in dieſer der Erfolg momentan iſt. Die briefliche Mittheilung iſt nicht ſo beſtimmend wie die muͤndliche Rede; der Empfaͤnger des Briefes hat Zeit, auf die Art, wie er beſtimmt ſei, zuruͤckzugehen, was bei der muͤndlichen Rede der Hoͤrer nicht kann. Die Abſicht muß ſich alſo um ſo mehr verbergen, je ver- ſchiedener die beiderſeitigen Intereſſen ſind. Im N. T. iſt der Fall eigentlich nicht zu denken, daß der didaktiſche und rhetoriſche Zweck ſich ſo zu verbergen noͤthig gehabt. Es iſt den Verhaͤltniſſen entſprechend, daß die Schreibenden be- lehren und die Leſenden belehrt ſein wollen. Auch im Falle eines rhetoriſchen Zweckes iſt an ein Verbergen deſſelben nicht gut zu denken, da zwiſchen den Intereſſen der Schreibenden und Empfangenden kein Widerſpruch iſt, beider Verhaͤltniſſe auf glei- chem Intereſſe beruhen. Selbſt, wenn ein neuteſt. Schriftſteller einmal ein eigentliches Privatintereſſe haben ſollte, iſt niemals ein Verbergenwollen natuͤrlich. Von dieſen Schwierigkeiten fern, iſt im N. T. die Aufgabe nur die, von jeder Schrift zu beſtimmen, ob ſie mehr didaktiſch oder rhetoriſch ſei, ob ſie alſo eine ſtren- gere Einheit habe, oder mehr auf dem Gebiete der freien Mitthei- lung liege. Die Entſcheidung daruͤber geht aus der allgemeinen Überſicht hervor. Man kann ſich denken, daß eine beſtimmte di- daktiſche oder rhetoriſche Einheit eigentlich das Motif iſt, aber daß ſich ſo die Luſt und Faͤhigkeit zur Mittheilung noch nicht er- ſchoͤpft hat, daß eine Einheit unbeſtimmter Art hinzukoͤmmt, oder daß ein Brief mit einem beſtimmten Zwecke anfaͤngt, und wenn dieſer erreicht iſt, als freie Mittheilung fortdauert. Es kann auch der umgekehrte Fall eintreten, daß eine freie Mittheilung in einen beſtimmteren Zweck und ſtrengere Einheit uͤbergeht. So kann alſo beides ineinander uͤbergehen. Geht man nun mit dem Voraus- bewußtſein einer ſolchen Verſchiedenheit an einen Brief, ſo fragt ſich, woran das eine oder andere zu erkennen ſei? Die beſtimmte Einheit iſt zu erkennen an der Zuſammenſtellung einzelner Ele- 12*

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Zitationshilfe: Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 179. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/203>, abgerufen am 04.12.2024.