Seite ist solche in dem ursprünglichen Willensakt bewußte Zer- streuung eine positive Anregung des freien Spiels der Vorstellun- gen, um alles Verwandte mit hineinzuziehen. So wie wir die verschiedenen Elemente unterscheiden, was allerdings nur möglich ist nachdem wir die erste Aufgabe gelöst haben, (denn habe ich die Einheit nicht gefunden, so kann ich auch die wesentlichen und zufälligen Elemente nicht unterscheiden,) und es entsteht die Auf- gabe, ihr Entstehen zu begreifen, so beruht diese auf der Kennt- niß des geheimen Vorstellungsbestandes, und dann auf der Art und Weise, wie wir von uns und unsrer Composition auf den Verfasser und die seinige zu schließen vermögen. Haben wir von dem Verfasser eine vollständige Kenntniß, so daß wir ihn kennen, wie uns selbst, so haben wir einen ganz anderen Maaß- stab, als wenn wir jene Kenntniß nicht haben; in jenem Falle können wir uns die Aufgabe stellen, zu wissen, nicht nur, was für Nebengedanken dem Verfasser eingefallen, sondern auch, was ihm nicht eingefallen, und was, und warum er etwas zurückge- wiesen hat. Wir können dieß erkennen aus einer zwischen ihm und uns aufgestellten Analogie, wozu wir in unsrer Kenntniß von ihm die Elemente haben.
Je mehr wir von einem Schriftsteller solche Produktionen haben, die ihrem wesentlichen Inhalte nach ein solches sich gehen lassen sind, desto leichter kommen wir zu jener Kenntniß von ihm. Doch kommt dabei zunächst in Betracht das Bewußtsein des Schriftstel- lers in Beziehung auf die, an die er zu schreiben hat. Läge in einem Briefe etwas, was außer jenem bestimmten Kreise ist, so wäre das aus Irrthum oder Unbedachtsamkeit geschehen. Dann kommt der momen- tane Zustand, das momentane Verhältniß des Schriftstellers in Anschlag. Denn jeder, hat er unter verschiedenen Umständen die- selben Gegenstände zu behandeln, wird vielleicht dieselben Haupt- gedanken haben, aber die Nebengedanken werden sehr verschieden sein. Da tritt wohl der Fall ein, daß man erst aus den sich ein- mischenden Gedanken die Ahndung von dem Zustande bekommt, in welchem sich der Schreibende befindet. Hier ist vieles, was
Hermeneutik u. Kritik. 13
Seite iſt ſolche in dem urſpruͤnglichen Willensakt bewußte Zer- ſtreuung eine poſitive Anregung des freien Spiels der Vorſtellun- gen, um alles Verwandte mit hineinzuziehen. So wie wir die verſchiedenen Elemente unterſcheiden, was allerdings nur moͤglich iſt nachdem wir die erſte Aufgabe geloͤſt haben, (denn habe ich die Einheit nicht gefunden, ſo kann ich auch die weſentlichen und zufaͤlligen Elemente nicht unterſcheiden,) und es entſteht die Auf- gabe, ihr Entſtehen zu begreifen, ſo beruht dieſe auf der Kennt- niß des geheimen Vorſtellungsbeſtandes, und dann auf der Art und Weiſe, wie wir von uns und unſrer Compoſition auf den Verfaſſer und die ſeinige zu ſchließen vermoͤgen. Haben wir von dem Verfaſſer eine vollſtaͤndige Kenntniß, ſo daß wir ihn kennen, wie uns ſelbſt, ſo haben wir einen ganz anderen Maaß- ſtab, als wenn wir jene Kenntniß nicht haben; in jenem Falle koͤnnen wir uns die Aufgabe ſtellen, zu wiſſen, nicht nur, was fuͤr Nebengedanken dem Verfaſſer eingefallen, ſondern auch, was ihm nicht eingefallen, und was, und warum er etwas zuruͤckge- wieſen hat. Wir koͤnnen dieß erkennen aus einer zwiſchen ihm und uns aufgeſtellten Analogie, wozu wir in unſrer Kenntniß von ihm die Elemente haben.
Je mehr wir von einem Schriftſteller ſolche Produktionen haben, die ihrem weſentlichen Inhalte nach ein ſolches ſich gehen laſſen ſind, deſto leichter kommen wir zu jener Kenntniß von ihm. Doch kommt dabei zunaͤchſt in Betracht das Bewußtſein des Schriftſtel- lers in Beziehung auf die, an die er zu ſchreiben hat. Laͤge in einem Briefe etwas, was außer jenem beſtimmten Kreiſe iſt, ſo waͤre das aus Irrthum oder Unbedachtſamkeit geſchehen. Dann kommt der momen- tane Zuſtand, das momentane Verhaͤltniß des Schriftſtellers in Anſchlag. Denn jeder, hat er unter verſchiedenen Umſtaͤnden die- ſelben Gegenſtaͤnde zu behandeln, wird vielleicht dieſelben Haupt- gedanken haben, aber die Nebengedanken werden ſehr verſchieden ſein. Da tritt wohl der Fall ein, daß man erſt aus den ſich ein- miſchenden Gedanken die Ahndung von dem Zuſtande bekommt, in welchem ſich der Schreibende befindet. Hier iſt vieles, was
Hermeneutik u. Kritik. 13
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Seite iſt ſolche in dem urſpruͤnglichen Willensakt bewußte Zer-
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gen, um alles Verwandte mit hineinzuziehen. So wie wir die
verſchiedenen Elemente unterſcheiden, was allerdings nur moͤglich
iſt nachdem wir die erſte Aufgabe geloͤſt haben, (denn habe ich
die Einheit nicht gefunden, ſo kann ich auch die weſentlichen und
zufaͤlligen Elemente nicht unterſcheiden,) und es entſteht die Auf-
gabe, ihr Entſtehen zu begreifen, ſo beruht dieſe auf der Kennt-
niß des geheimen Vorſtellungsbeſtandes, und dann auf der Art
und Weiſe, wie wir von uns und unſrer Compoſition auf den
Verfaſſer und die ſeinige zu ſchließen vermoͤgen. Haben wir
von dem Verfaſſer eine vollſtaͤndige Kenntniß, ſo daß wir ihn
kennen, wie uns ſelbſt, ſo haben wir einen ganz anderen Maaß-
ſtab, als wenn wir jene Kenntniß nicht haben; in jenem Falle
koͤnnen wir uns die Aufgabe ſtellen, zu wiſſen, nicht nur, was
fuͤr Nebengedanken dem Verfaſſer eingefallen, ſondern auch, was
ihm nicht eingefallen, und was, und warum er etwas zuruͤckge-
wieſen hat. Wir koͤnnen dieß erkennen aus einer zwiſchen ihm
und uns aufgeſtellten Analogie, wozu wir in unſrer Kenntniß
von ihm die Elemente haben.
Je mehr wir von einem Schriftſteller ſolche Produktionen
haben, die ihrem weſentlichen Inhalte nach ein ſolches ſich gehen
laſſen ſind, deſto leichter kommen wir zu jener Kenntniß von ihm.
Doch kommt dabei zunaͤchſt in Betracht das Bewußtſein des Schriftſtel-
lers in Beziehung auf die, an die er zu ſchreiben hat. Laͤge in einem
Briefe etwas, was außer jenem beſtimmten Kreiſe iſt, ſo waͤre das aus
Irrthum oder Unbedachtſamkeit geſchehen. Dann kommt der momen-
tane Zuſtand, das momentane Verhaͤltniß des Schriftſtellers in
Anſchlag. Denn jeder, hat er unter verſchiedenen Umſtaͤnden die-
ſelben Gegenſtaͤnde zu behandeln, wird vielleicht dieſelben Haupt-
gedanken haben, aber die Nebengedanken werden ſehr verſchieden
ſein. Da tritt wohl der Fall ein, daß man erſt aus den ſich ein-
miſchenden Gedanken die Ahndung von dem Zuſtande bekommt,
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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 193. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/217>, abgerufen am 04.12.2024.
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