grund traten. Aber von der andern Seite bestanden die Gemein- den, an die sie schrieben, aus Juden oder Heiden. Mit jenen hatten sie aus ihrem früheren Leben manches, besonders das A. T. gemeinsam, mit diesen aber gar keinen gemeinschaftlichen Vor- stellungskreis. So konnte aus dem heidnischen Leben nicht leicht etwas als Nebengedanke in den neutest. Schriften hervortreten. In ihrem Verhältniß zu den Heidenchristen war der Anknüpfungs- punkt nur das Christenthum, der Gegenstand des Schreibens. Indessen standen die Heiden, die Christen wurden, wol schon frü- her mit den Juden in einiger Verbindung und kannten dadurch das A. T. Als Christen traten sie dadurch, daß in den Versamm- lungen das A. T. das alleinige Buch war, wovon ausgegangen werden konnte, noch mehr in den Jüdischen Lebenskreis ein. So gab auch in neutest. Schriften, welche für Heidenchristen be- stimmt waren, das A. T. vorzugsweise den Stoff her zu Neben- gedanken. Erklären wir nun die Nebengedanken in den freien Mittheilungen aus dem gemeinsamen alttestam. Vorstellungskreise, so kommen wir damit wieder auf ein sehr streitiges Gebiet. Wie verschieden nemlich sind von jeher die gelegentlichen Anführungen aus dem A. T. behandelt und taxirt worden! Sagt man, der Gebrauch, den die neutest. Schriftsteller von alttestam. Stellen machen, sei auch der eigentliche Sinn der lezteren, so erhält man ein ganz anderes Resultat, als wenn man sagt, eben deßhalb, weil es außer dem unmittelbaren Gegenstande der Schrift so wenig Gemeinschaftliches zwischen den Schriftstellern und Lesern gab, sei von dem Wenigen ein fleißiger und deßhalb auch ver- schiedener Gebrauch gemacht worden. Es ist die Aufgabe, die angeführte Stelle als Thatsache im Gemüth des Schreibenden zu verstehen. War es dem Schriftsteller unmöglich, die Stelle an- ders als in ihrem ursprünglichen Sinne zu verstehen, so ist dieß eben die einzige Auslegung. Kann man aber denken, der Schrift- steller habe die Stelle auch anders gebrauchen können, so entste- hen noch ganz andere Möglichkeiten. Es kann der Fall eintreten, daß dieselbe alttest. Stelle von verschiedenen neutestam. Schrift-
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grund traten. Aber von der andern Seite beſtanden die Gemein- den, an die ſie ſchrieben, aus Juden oder Heiden. Mit jenen hatten ſie aus ihrem fruͤheren Leben manches, beſonders das A. T. gemeinſam, mit dieſen aber gar keinen gemeinſchaftlichen Vor- ſtellungskreis. So konnte aus dem heidniſchen Leben nicht leicht etwas als Nebengedanke in den neuteſt. Schriften hervortreten. In ihrem Verhaͤltniß zu den Heidenchriſten war der Anknuͤpfungs- punkt nur das Chriſtenthum, der Gegenſtand des Schreibens. Indeſſen ſtanden die Heiden, die Chriſten wurden, wol ſchon fruͤ- her mit den Juden in einiger Verbindung und kannten dadurch das A. T. Als Chriſten traten ſie dadurch, daß in den Verſamm- lungen das A. T. das alleinige Buch war, wovon ausgegangen werden konnte, noch mehr in den Juͤdiſchen Lebenskreis ein. So gab auch in neuteſt. Schriften, welche fuͤr Heidenchriſten be- ſtimmt waren, das A. T. vorzugsweiſe den Stoff her zu Neben- gedanken. Erklaͤren wir nun die Nebengedanken in den freien Mittheilungen aus dem gemeinſamen altteſtam. Vorſtellungskreiſe, ſo kommen wir damit wieder auf ein ſehr ſtreitiges Gebiet. Wie verſchieden nemlich ſind von jeher die gelegentlichen Anfuͤhrungen aus dem A. T. behandelt und taxirt worden! Sagt man, der Gebrauch, den die neuteſt. Schriftſteller von altteſtam. Stellen machen, ſei auch der eigentliche Sinn der lezteren, ſo erhaͤlt man ein ganz anderes Reſultat, als wenn man ſagt, eben deßhalb, weil es außer dem unmittelbaren Gegenſtande der Schrift ſo wenig Gemeinſchaftliches zwiſchen den Schriftſtellern und Leſern gab, ſei von dem Wenigen ein fleißiger und deßhalb auch ver- ſchiedener Gebrauch gemacht worden. Es iſt die Aufgabe, die angefuͤhrte Stelle als Thatſache im Gemuͤth des Schreibenden zu verſtehen. War es dem Schriftſteller unmoͤglich, die Stelle an- ders als in ihrem urſpruͤnglichen Sinne zu verſtehen, ſo iſt dieß eben die einzige Auslegung. Kann man aber denken, der Schrift- ſteller habe die Stelle auch anders gebrauchen koͤnnen, ſo entſte- hen noch ganz andere Moͤglichkeiten. Es kann der Fall eintreten, daß dieſelbe altteſt. Stelle von verſchiedenen neuteſtam. Schrift-
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grund traten. Aber von der andern Seite beſtanden die Gemein-
den, an die ſie ſchrieben, aus Juden oder Heiden. Mit jenen
hatten ſie aus ihrem fruͤheren Leben manches, beſonders das A.
T. gemeinſam, mit dieſen aber gar keinen gemeinſchaftlichen Vor-
ſtellungskreis. So konnte aus dem heidniſchen Leben nicht leicht
etwas als Nebengedanke in den neuteſt. Schriften hervortreten.
In ihrem Verhaͤltniß zu den Heidenchriſten war der Anknuͤpfungs-
punkt nur das Chriſtenthum, der Gegenſtand des Schreibens.
Indeſſen ſtanden die Heiden, die Chriſten wurden, wol ſchon fruͤ-
her mit den Juden in einiger Verbindung und kannten dadurch
das A. T. Als Chriſten traten ſie dadurch, daß in den Verſamm-
lungen das A. T. das alleinige Buch war, wovon ausgegangen
werden konnte, noch mehr in den Juͤdiſchen Lebenskreis ein.
So gab auch in neuteſt. Schriften, welche fuͤr Heidenchriſten be-
ſtimmt waren, das A. T. vorzugsweiſe den Stoff her zu Neben-
gedanken. Erklaͤren wir nun die Nebengedanken in den freien
Mittheilungen aus dem gemeinſamen altteſtam. Vorſtellungskreiſe,
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ein ganz anderes Reſultat, als wenn man ſagt, eben deßhalb,
weil es außer dem unmittelbaren Gegenſtande der Schrift ſo
wenig Gemeinſchaftliches zwiſchen den Schriftſtellern und Leſern
gab, ſei von dem Wenigen ein fleißiger und deßhalb auch ver-
ſchiedener Gebrauch gemacht worden. Es iſt die Aufgabe, die
angefuͤhrte Stelle als Thatſache im Gemuͤth des Schreibenden zu
verſtehen. War es dem Schriftſteller unmoͤglich, die Stelle an-
ders als in ihrem urſpruͤnglichen Sinne zu verſtehen, ſo iſt dieß
eben die einzige Auslegung. Kann man aber denken, der Schrift-
ſteller habe die Stelle auch anders gebrauchen koͤnnen, ſo entſte-
hen noch ganz andere Moͤglichkeiten. Es kann der Fall eintreten,
daß dieſelbe altteſt. Stelle von verſchiedenen neuteſtam. Schrift-
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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 195. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/219>, abgerufen am 04.12.2024.
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