Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838.

Bild:
<< vorherige Seite

grund traten. Aber von der andern Seite bestanden die Gemein-
den, an die sie schrieben, aus Juden oder Heiden. Mit jenen
hatten sie aus ihrem früheren Leben manches, besonders das A.
T. gemeinsam, mit diesen aber gar keinen gemeinschaftlichen Vor-
stellungskreis. So konnte aus dem heidnischen Leben nicht leicht
etwas als Nebengedanke in den neutest. Schriften hervortreten.
In ihrem Verhältniß zu den Heidenchristen war der Anknüpfungs-
punkt nur das Christenthum, der Gegenstand des Schreibens.
Indessen standen die Heiden, die Christen wurden, wol schon frü-
her mit den Juden in einiger Verbindung und kannten dadurch
das A. T. Als Christen traten sie dadurch, daß in den Versamm-
lungen das A. T. das alleinige Buch war, wovon ausgegangen
werden konnte, noch mehr in den Jüdischen Lebenskreis ein.
So gab auch in neutest. Schriften, welche für Heidenchristen be-
stimmt waren, das A. T. vorzugsweise den Stoff her zu Neben-
gedanken. Erklären wir nun die Nebengedanken in den freien
Mittheilungen aus dem gemeinsamen alttestam. Vorstellungskreise,
so kommen wir damit wieder auf ein sehr streitiges Gebiet. Wie
verschieden nemlich sind von jeher die gelegentlichen Anführungen
aus dem A. T. behandelt und taxirt worden! Sagt man, der
Gebrauch, den die neutest. Schriftsteller von alttestam. Stellen
machen, sei auch der eigentliche Sinn der lezteren, so erhält man
ein ganz anderes Resultat, als wenn man sagt, eben deßhalb,
weil es außer dem unmittelbaren Gegenstande der Schrift so
wenig Gemeinschaftliches zwischen den Schriftstellern und Lesern
gab, sei von dem Wenigen ein fleißiger und deßhalb auch ver-
schiedener Gebrauch gemacht worden. Es ist die Aufgabe, die
angeführte Stelle als Thatsache im Gemüth des Schreibenden zu
verstehen. War es dem Schriftsteller unmöglich, die Stelle an-
ders als in ihrem ursprünglichen Sinne zu verstehen, so ist dieß
eben die einzige Auslegung. Kann man aber denken, der Schrift-
steller habe die Stelle auch anders gebrauchen können, so entste-
hen noch ganz andere Möglichkeiten. Es kann der Fall eintreten,
daß dieselbe alttest. Stelle von verschiedenen neutestam. Schrift-

13*

grund traten. Aber von der andern Seite beſtanden die Gemein-
den, an die ſie ſchrieben, aus Juden oder Heiden. Mit jenen
hatten ſie aus ihrem fruͤheren Leben manches, beſonders das A.
T. gemeinſam, mit dieſen aber gar keinen gemeinſchaftlichen Vor-
ſtellungskreis. So konnte aus dem heidniſchen Leben nicht leicht
etwas als Nebengedanke in den neuteſt. Schriften hervortreten.
In ihrem Verhaͤltniß zu den Heidenchriſten war der Anknuͤpfungs-
punkt nur das Chriſtenthum, der Gegenſtand des Schreibens.
Indeſſen ſtanden die Heiden, die Chriſten wurden, wol ſchon fruͤ-
her mit den Juden in einiger Verbindung und kannten dadurch
das A. T. Als Chriſten traten ſie dadurch, daß in den Verſamm-
lungen das A. T. das alleinige Buch war, wovon ausgegangen
werden konnte, noch mehr in den Juͤdiſchen Lebenskreis ein.
So gab auch in neuteſt. Schriften, welche fuͤr Heidenchriſten be-
ſtimmt waren, das A. T. vorzugsweiſe den Stoff her zu Neben-
gedanken. Erklaͤren wir nun die Nebengedanken in den freien
Mittheilungen aus dem gemeinſamen altteſtam. Vorſtellungskreiſe,
ſo kommen wir damit wieder auf ein ſehr ſtreitiges Gebiet. Wie
verſchieden nemlich ſind von jeher die gelegentlichen Anfuͤhrungen
aus dem A. T. behandelt und taxirt worden! Sagt man, der
Gebrauch, den die neuteſt. Schriftſteller von altteſtam. Stellen
machen, ſei auch der eigentliche Sinn der lezteren, ſo erhaͤlt man
ein ganz anderes Reſultat, als wenn man ſagt, eben deßhalb,
weil es außer dem unmittelbaren Gegenſtande der Schrift ſo
wenig Gemeinſchaftliches zwiſchen den Schriftſtellern und Leſern
gab, ſei von dem Wenigen ein fleißiger und deßhalb auch ver-
ſchiedener Gebrauch gemacht worden. Es iſt die Aufgabe, die
angefuͤhrte Stelle als Thatſache im Gemuͤth des Schreibenden zu
verſtehen. War es dem Schriftſteller unmoͤglich, die Stelle an-
ders als in ihrem urſpruͤnglichen Sinne zu verſtehen, ſo iſt dieß
eben die einzige Auslegung. Kann man aber denken, der Schrift-
ſteller habe die Stelle auch anders gebrauchen koͤnnen, ſo entſte-
hen noch ganz andere Moͤglichkeiten. Es kann der Fall eintreten,
daß dieſelbe altteſt. Stelle von verſchiedenen neuteſtam. Schrift-

13*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0219" n="195"/>
grund traten. Aber von der andern Seite be&#x017F;tanden die Gemein-<lb/>
den, an die &#x017F;ie &#x017F;chrieben, aus Juden oder Heiden. Mit jenen<lb/>
hatten &#x017F;ie aus ihrem fru&#x0364;heren Leben manches, be&#x017F;onders das A.<lb/>
T. gemein&#x017F;am, mit die&#x017F;en aber gar keinen gemein&#x017F;chaftlichen Vor-<lb/>
&#x017F;tellungskreis. So konnte aus dem heidni&#x017F;chen Leben nicht leicht<lb/>
etwas als Nebengedanke in den neute&#x017F;t. Schriften hervortreten.<lb/>
In ihrem Verha&#x0364;ltniß zu den Heidenchri&#x017F;ten war der Anknu&#x0364;pfungs-<lb/>
punkt nur das Chri&#x017F;tenthum, der Gegen&#x017F;tand des Schreibens.<lb/>
Inde&#x017F;&#x017F;en &#x017F;tanden die Heiden, die Chri&#x017F;ten wurden, wol &#x017F;chon fru&#x0364;-<lb/>
her mit den Juden in einiger Verbindung und kannten dadurch<lb/>
das A. T. Als Chri&#x017F;ten traten &#x017F;ie dadurch, daß in den Ver&#x017F;amm-<lb/>
lungen das A. T. das alleinige Buch war, wovon ausgegangen<lb/>
werden konnte, noch mehr in den Ju&#x0364;di&#x017F;chen Lebenskreis ein.<lb/>
So gab auch in neute&#x017F;t. Schriften, welche fu&#x0364;r Heidenchri&#x017F;ten be-<lb/>
&#x017F;timmt waren, das A. T. vorzugswei&#x017F;e den Stoff her zu Neben-<lb/>
gedanken. Erkla&#x0364;ren wir nun die Nebengedanken in den freien<lb/>
Mittheilungen aus dem gemein&#x017F;amen altte&#x017F;tam. Vor&#x017F;tellungskrei&#x017F;e,<lb/>
&#x017F;o kommen wir damit wieder auf ein &#x017F;ehr &#x017F;treitiges Gebiet. Wie<lb/>
ver&#x017F;chieden nemlich &#x017F;ind von jeher die gelegentlichen Anfu&#x0364;hrungen<lb/>
aus dem A. T. behandelt und taxirt worden! Sagt man, der<lb/>
Gebrauch, den die neute&#x017F;t. Schrift&#x017F;teller von altte&#x017F;tam. Stellen<lb/>
machen, &#x017F;ei auch der eigentliche Sinn der lezteren, &#x017F;o erha&#x0364;lt man<lb/>
ein ganz anderes Re&#x017F;ultat, als wenn man &#x017F;agt, eben deßhalb,<lb/>
weil es außer dem unmittelbaren Gegen&#x017F;tande der Schrift &#x017F;o<lb/>
wenig Gemein&#x017F;chaftliches zwi&#x017F;chen den Schrift&#x017F;tellern und Le&#x017F;ern<lb/>
gab, &#x017F;ei von dem Wenigen ein fleißiger und deßhalb auch ver-<lb/>
&#x017F;chiedener Gebrauch gemacht worden. Es i&#x017F;t die Aufgabe, die<lb/>
angefu&#x0364;hrte Stelle als That&#x017F;ache im Gemu&#x0364;th des Schreibenden zu<lb/>
ver&#x017F;tehen. War es dem Schrift&#x017F;teller unmo&#x0364;glich, die Stelle an-<lb/>
ders als in ihrem ur&#x017F;pru&#x0364;nglichen Sinne zu ver&#x017F;tehen, &#x017F;o i&#x017F;t dieß<lb/>
eben die einzige Auslegung. Kann man aber denken, der Schrift-<lb/>
&#x017F;teller habe die Stelle auch anders gebrauchen ko&#x0364;nnen, &#x017F;o ent&#x017F;te-<lb/>
hen noch ganz andere Mo&#x0364;glichkeiten. Es kann der Fall eintreten,<lb/>
daß die&#x017F;elbe altte&#x017F;t. Stelle von ver&#x017F;chiedenen neute&#x017F;tam. Schrift-<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">13*</fw><lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[195/0219] grund traten. Aber von der andern Seite beſtanden die Gemein- den, an die ſie ſchrieben, aus Juden oder Heiden. Mit jenen hatten ſie aus ihrem fruͤheren Leben manches, beſonders das A. T. gemeinſam, mit dieſen aber gar keinen gemeinſchaftlichen Vor- ſtellungskreis. So konnte aus dem heidniſchen Leben nicht leicht etwas als Nebengedanke in den neuteſt. Schriften hervortreten. In ihrem Verhaͤltniß zu den Heidenchriſten war der Anknuͤpfungs- punkt nur das Chriſtenthum, der Gegenſtand des Schreibens. Indeſſen ſtanden die Heiden, die Chriſten wurden, wol ſchon fruͤ- her mit den Juden in einiger Verbindung und kannten dadurch das A. T. Als Chriſten traten ſie dadurch, daß in den Verſamm- lungen das A. T. das alleinige Buch war, wovon ausgegangen werden konnte, noch mehr in den Juͤdiſchen Lebenskreis ein. So gab auch in neuteſt. Schriften, welche fuͤr Heidenchriſten be- ſtimmt waren, das A. T. vorzugsweiſe den Stoff her zu Neben- gedanken. Erklaͤren wir nun die Nebengedanken in den freien Mittheilungen aus dem gemeinſamen altteſtam. Vorſtellungskreiſe, ſo kommen wir damit wieder auf ein ſehr ſtreitiges Gebiet. Wie verſchieden nemlich ſind von jeher die gelegentlichen Anfuͤhrungen aus dem A. T. behandelt und taxirt worden! Sagt man, der Gebrauch, den die neuteſt. Schriftſteller von altteſtam. Stellen machen, ſei auch der eigentliche Sinn der lezteren, ſo erhaͤlt man ein ganz anderes Reſultat, als wenn man ſagt, eben deßhalb, weil es außer dem unmittelbaren Gegenſtande der Schrift ſo wenig Gemeinſchaftliches zwiſchen den Schriftſtellern und Leſern gab, ſei von dem Wenigen ein fleißiger und deßhalb auch ver- ſchiedener Gebrauch gemacht worden. Es iſt die Aufgabe, die angefuͤhrte Stelle als Thatſache im Gemuͤth des Schreibenden zu verſtehen. War es dem Schriftſteller unmoͤglich, die Stelle an- ders als in ihrem urſpruͤnglichen Sinne zu verſtehen, ſo iſt dieß eben die einzige Auslegung. Kann man aber denken, der Schrift- ſteller habe die Stelle auch anders gebrauchen koͤnnen, ſo entſte- hen noch ganz andere Moͤglichkeiten. Es kann der Fall eintreten, daß dieſelbe altteſt. Stelle von verſchiedenen neuteſtam. Schrift- 13*

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/219
Zitationshilfe: Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 195. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/219>, abgerufen am 04.12.2024.