heres als das öffentliche Leben vorkommt, da haben wir die Ele- mente zusammen, sowol was der Schriftsteller als Augenzeuge erzählt, als was er von Andern hat. Giebt es nun bestimmte Kennzeichen für die Erzählungen, die von einem Augenzeugen herrühren? Diese Frage ist im Allgemeinen leicht zu bejahen. Aber sollen wir das Unterscheidende angeben, so ist das sehr schwierig. Betrach- ten wir die Sache im Allgemeinen, so müssen wir sagen, es giebt Erdichtungen in der Form von Erzählungen, und da wird es als Vollkommenheit angesehen, wenn sie den Schein eines unmittel- baren Berichts eines Augenzeugen an sich tragen. Da ist die Unmittelbarkeit der sinnlichen Anschauung wol die Formel, unter der man das Charakteristische zusammenhalten kann. Daraus geht aber hervor, daß der Erdichtende diese sinnliche Anschauung selbst habe haben müssen, sonst könnte seine Erdichtung nicht den Ty- pus eines ursprünglichen Berichts haben. Es kann auch sein, daß einer das was ein Augenzeuge erzählt gerade so seiner Schrift einverleibt hat, er ist aber nicht selbst Augenzeuge gewesen. Je weniger er bei der Aufnahme selbstthätig gewesen, desto mehr wird es jenen Typus behalten. So können die Evangelien Berichte von Augenzeugen enthalten und doch ihre Verfasser von Nichts Augenzeugen gewesen sein. Da fragt sich nun, ob das so bleibt, wenn wir auf die Zusammenstellung sehen? Vorausgesezt also, alles hätte den Charakter von Berichten eines Augenzeugen, wür- den wir da nun entscheiden können, ob die Evangelisten selbst Augenzeugen waren oder nur Zusammensteller von Berichten der Augenzeugen? Es leuchtet ein, wie schwierig dieß ist zu entscheiden. Wären wir über den Typus einig, den der Bericht eines Augenzeugen haben muß, so können in einer solchen Schrift Stellen vorkommen, die diesen Typus haben, und die ihn nicht haben. Aus dem lezteren aber würde gar nicht folgen, daß das Ganze von einem Fremden herrühre, sondern, wie ein Einziger nicht alles mit erleben konnte, so konnte er, da sein Impuls auf Zusammenstellung von Einzelheiten gerichtet war, manches aufnehmen, wobei er nicht Augenzeuge gewesen. So erzählt Johannes mit einer gewissen Ausführlichkeit das Verhör
heres als das oͤffentliche Leben vorkommt, da haben wir die Ele- mente zuſammen, ſowol was der Schriftſteller als Augenzeuge erzaͤhlt, als was er von Andern hat. Giebt es nun beſtimmte Kennzeichen fuͤr die Erzaͤhlungen, die von einem Augenzeugen herruͤhren? Dieſe Frage iſt im Allgemeinen leicht zu bejahen. Aber ſollen wir das Unterſcheidende angeben, ſo iſt das ſehr ſchwierig. Betrach- ten wir die Sache im Allgemeinen, ſo muͤſſen wir ſagen, es giebt Erdichtungen in der Form von Erzaͤhlungen, und da wird es als Vollkommenheit angeſehen, wenn ſie den Schein eines unmittel- baren Berichts eines Augenzeugen an ſich tragen. Da iſt die Unmittelbarkeit der ſinnlichen Anſchauung wol die Formel, unter der man das Charakteriſtiſche zuſammenhalten kann. Daraus geht aber hervor, daß der Erdichtende dieſe ſinnliche Anſchauung ſelbſt habe haben muͤſſen, ſonſt koͤnnte ſeine Erdichtung nicht den Ty- pus eines urſpruͤnglichen Berichts haben. Es kann auch ſein, daß einer das was ein Augenzeuge erzaͤhlt gerade ſo ſeiner Schrift einverleibt hat, er iſt aber nicht ſelbſt Augenzeuge geweſen. Je weniger er bei der Aufnahme ſelbſtthaͤtig geweſen, deſto mehr wird es jenen Typus behalten. So koͤnnen die Evangelien Berichte von Augenzeugen enthalten und doch ihre Verfaſſer von Nichts Augenzeugen geweſen ſein. Da fragt ſich nun, ob das ſo bleibt, wenn wir auf die Zuſammenſtellung ſehen? Vorausgeſezt alſo, alles haͤtte den Charakter von Berichten eines Augenzeugen, wuͤr- den wir da nun entſcheiden koͤnnen, ob die Evangeliſten ſelbſt Augenzeugen waren oder nur Zuſammenſteller von Berichten der Augenzeugen? Es leuchtet ein, wie ſchwierig dieß iſt zu entſcheiden. Waͤren wir uͤber den Typus einig, den der Bericht eines Augenzeugen haben muß, ſo koͤnnen in einer ſolchen Schrift Stellen vorkommen, die dieſen Typus haben, und die ihn nicht haben. Aus dem lezteren aber wuͤrde gar nicht folgen, daß das Ganze von einem Fremden herruͤhre, ſondern, wie ein Einziger nicht alles mit erleben konnte, ſo konnte er, da ſein Impuls auf Zuſammenſtellung von Einzelheiten gerichtet war, manches aufnehmen, wobei er nicht Augenzeuge geweſen. So erzaͤhlt Johannes mit einer gewiſſen Ausfuͤhrlichkeit das Verhoͤr
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heres als das oͤffentliche Leben vorkommt, da haben wir die Ele-
mente zuſammen, ſowol was der Schriftſteller als Augenzeuge erzaͤhlt,
als was er von Andern hat. Giebt es nun beſtimmte Kennzeichen
fuͤr die Erzaͤhlungen, die von einem Augenzeugen herruͤhren?
Dieſe Frage iſt im Allgemeinen leicht zu bejahen. Aber ſollen wir
das Unterſcheidende angeben, ſo iſt das ſehr ſchwierig. Betrach-
ten wir die Sache im Allgemeinen, ſo muͤſſen wir ſagen, es giebt
Erdichtungen in der Form von Erzaͤhlungen, und da wird es als
Vollkommenheit angeſehen, wenn ſie den Schein eines unmittel-
baren Berichts eines Augenzeugen an ſich tragen. Da iſt die
Unmittelbarkeit der ſinnlichen Anſchauung wol die Formel, unter
der man das Charakteriſtiſche zuſammenhalten kann. Daraus geht
aber hervor, daß der Erdichtende dieſe ſinnliche Anſchauung ſelbſt
habe haben muͤſſen, ſonſt koͤnnte ſeine Erdichtung nicht den Ty-
pus eines urſpruͤnglichen Berichts haben. Es kann auch ſein,
daß einer das was ein Augenzeuge erzaͤhlt gerade ſo ſeiner Schrift
einverleibt hat, er iſt aber nicht ſelbſt Augenzeuge geweſen. Je
weniger er bei der Aufnahme ſelbſtthaͤtig geweſen, deſto mehr wird
es jenen Typus behalten. So koͤnnen die Evangelien Berichte
von Augenzeugen enthalten und doch ihre Verfaſſer von Nichts
Augenzeugen geweſen ſein. Da fragt ſich nun, ob das ſo bleibt,
wenn wir auf die Zuſammenſtellung ſehen? Vorausgeſezt alſo,
alles haͤtte den Charakter von Berichten eines Augenzeugen, wuͤr-
den wir da nun entſcheiden koͤnnen, ob die Evangeliſten ſelbſt
Augenzeugen waren oder nur Zuſammenſteller von Berichten der
Augenzeugen? Es leuchtet ein, wie ſchwierig dieß iſt zu entſcheiden.
Waͤren wir uͤber den Typus einig, den der Bericht eines Augenzeugen
haben muß, ſo koͤnnen in einer ſolchen Schrift Stellen vorkommen, die
dieſen Typus haben, und die ihn nicht haben. Aus dem lezteren aber
wuͤrde gar nicht folgen, daß das Ganze von einem Fremden herruͤhre,
ſondern, wie ein Einziger nicht alles mit erleben konnte, ſo konnte er,
da ſein Impuls auf Zuſammenſtellung von Einzelheiten gerichtet
war, manches aufnehmen, wobei er nicht Augenzeuge geweſen. So
erzaͤhlt Johannes mit einer gewiſſen Ausfuͤhrlichkeit das Verhoͤr
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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 222. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/246>, abgerufen am 04.12.2024.
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