bei Annas, dagegen von dem bei Pilatus wenig, denn bei dem ersten war er anwesend, bei dem zweiten nicht. Und so hat er das übergangen, was aufzunehmen nicht nothwendig in seinem Impuls lag. Hätte er einen andern Impuls gehabt, so hätte er sich von Andern die Nachricht verschaffen müssen. Solche Diffe- renz entscheidet also nicht. Bei einer solchen Ungleichheit fragen wir denn, ob der Verfasser im Ganzen Augenzeuge gewesen ist? Entweder nun er ist dieß in dem Grade gewesen, daß er nur was er selbst gesehen aufgenommen hat, oder er hat Berichte von Au- genzeugen und aus der dritten Hand gehabt. Wie ist zwischen diesen beiden Fällen zu entscheiden? Kommt nichts Äußeres zu Hülfe, so wäre nur möglich zu entscheiden, wenn wir finden könnten, ein Augenzeuge hat, wenn er auch von Andern Erzähl- tes aufnimmt, eine verschiedene Art zu verknüpfen und zusam- menzustellen. Können wir solche Differenz nun finden? In dem Falle wenn der Gesichtspunkt des Ganzen der einer Lebensbe- schreibung ist, ist der Unterschied gerade in der Zusammenstellung leicht zu finden, weil da das von Andern Zusammengestellte nicht im ursprünglichen Zusammenhange der Composition ist, und die Ein- zelheiten, wenn der Verfasser selbst zusammenstellt, werden in der Zu- sammenstellung das Ansehen von Conjecturen haben, den Charakter des Unmittelbaren entbehren. Dagegen werden bei den Andern die Zusammenstellungen den Charakter von Berichten von Augen- zeugen haben, und nur die aufgenommenen Theile werden jenen Charakter (des nicht Unmittelbaren) tragen. Denken wir dagegen, ein Verfasser habe nicht die Idee einer zusammenhängenden Le- bensbeschreibung gehabt, und er habe die Einzelheiten nur nach gewissen bestimmten Gesichtspunkten zusammengestellt, in diesem Falle ist der Zusammenhang nicht der unmittelbare des Lebens, der Anschauung, sondern der abstracte; es kann also hier der Cha- rakter des Augenzeugen nicht im Zusammenhange liegen. So kön- nen wir diese hermeneutische Aufgabe nur dann vollständig zu lösen unternehmen, wo wir bestimmte Extreme finden.
Bei Johannes herrscht durchgehends ein bestimmter Gesichts-
bei Annas, dagegen von dem bei Pilatus wenig, denn bei dem erſten war er anweſend, bei dem zweiten nicht. Und ſo hat er das uͤbergangen, was aufzunehmen nicht nothwendig in ſeinem Impuls lag. Haͤtte er einen andern Impuls gehabt, ſo haͤtte er ſich von Andern die Nachricht verſchaffen muͤſſen. Solche Diffe- renz entſcheidet alſo nicht. Bei einer ſolchen Ungleichheit fragen wir denn, ob der Verfaſſer im Ganzen Augenzeuge geweſen iſt? Entweder nun er iſt dieß in dem Grade geweſen, daß er nur was er ſelbſt geſehen aufgenommen hat, oder er hat Berichte von Au- genzeugen und aus der dritten Hand gehabt. Wie iſt zwiſchen dieſen beiden Faͤllen zu entſcheiden? Kommt nichts Äußeres zu Huͤlfe, ſo waͤre nur moͤglich zu entſcheiden, wenn wir finden koͤnnten, ein Augenzeuge hat, wenn er auch von Andern Erzaͤhl- tes aufnimmt, eine verſchiedene Art zu verknuͤpfen und zuſam- menzuſtellen. Koͤnnen wir ſolche Differenz nun finden? In dem Falle wenn der Geſichtspunkt des Ganzen der einer Lebensbe- ſchreibung iſt, iſt der Unterſchied gerade in der Zuſammenſtellung leicht zu finden, weil da das von Andern Zuſammengeſtellte nicht im urſpruͤnglichen Zuſammenhange der Compoſition iſt, und die Ein- zelheiten, wenn der Verfaſſer ſelbſt zuſammenſtellt, werden in der Zu- ſammenſtellung das Anſehen von Conjecturen haben, den Charakter des Unmittelbaren entbehren. Dagegen werden bei den Andern die Zuſammenſtellungen den Charakter von Berichten von Augen- zeugen haben, und nur die aufgenommenen Theile werden jenen Charakter (des nicht Unmittelbaren) tragen. Denken wir dagegen, ein Verfaſſer habe nicht die Idee einer zuſammenhaͤngenden Le- bensbeſchreibung gehabt, und er habe die Einzelheiten nur nach gewiſſen beſtimmten Geſichtspunkten zuſammengeſtellt, in dieſem Falle iſt der Zuſammenhang nicht der unmittelbare des Lebens, der Anſchauung, ſondern der abſtracte; es kann alſo hier der Cha- rakter des Augenzeugen nicht im Zuſammenhange liegen. So koͤn- nen wir dieſe hermeneutiſche Aufgabe nur dann vollſtaͤndig zu loͤſen unternehmen, wo wir beſtimmte Extreme finden.
Bei Johannes herrſcht durchgehends ein beſtimmter Geſichts-
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bei Annas, dagegen von dem bei Pilatus wenig, denn bei dem
erſten war er anweſend, bei dem zweiten nicht. Und ſo hat er
das uͤbergangen, was aufzunehmen nicht nothwendig in ſeinem
Impuls lag. Haͤtte er einen andern Impuls gehabt, ſo haͤtte er
ſich von Andern die Nachricht verſchaffen muͤſſen. Solche Diffe-
renz entſcheidet alſo nicht. Bei einer ſolchen Ungleichheit fragen
wir denn, ob der Verfaſſer im Ganzen Augenzeuge geweſen iſt?
Entweder nun er iſt dieß in dem Grade geweſen, daß er nur
was er ſelbſt geſehen aufgenommen hat, oder er hat Berichte von Au-
genzeugen und aus der dritten Hand gehabt. Wie iſt zwiſchen
dieſen beiden Faͤllen zu entſcheiden? Kommt nichts Äußeres zu
Huͤlfe, ſo waͤre nur moͤglich zu entſcheiden, wenn wir finden
koͤnnten, ein Augenzeuge hat, wenn er auch von Andern Erzaͤhl-
tes aufnimmt, eine verſchiedene Art zu verknuͤpfen und zuſam-
menzuſtellen. Koͤnnen wir ſolche Differenz nun finden? In dem
Falle wenn der Geſichtspunkt des Ganzen der einer Lebensbe-
ſchreibung iſt, iſt der Unterſchied gerade in der Zuſammenſtellung
leicht zu finden, weil da das von Andern Zuſammengeſtellte nicht
im urſpruͤnglichen Zuſammenhange der Compoſition iſt, und die Ein-
zelheiten, wenn der Verfaſſer ſelbſt zuſammenſtellt, werden in der Zu-
ſammenſtellung das Anſehen von Conjecturen haben, den Charakter
des Unmittelbaren entbehren. Dagegen werden bei den Andern
die Zuſammenſtellungen den Charakter von Berichten von Augen-
zeugen haben, und nur die aufgenommenen Theile werden jenen
Charakter (des nicht Unmittelbaren) tragen. Denken wir dagegen,
ein Verfaſſer habe nicht die Idee einer zuſammenhaͤngenden Le-
bensbeſchreibung gehabt, und er habe die Einzelheiten nur nach
gewiſſen beſtimmten Geſichtspunkten zuſammengeſtellt, in dieſem
Falle iſt der Zuſammenhang nicht der unmittelbare des Lebens,
der Anſchauung, ſondern der abſtracte; es kann alſo hier der Cha-
rakter des Augenzeugen nicht im Zuſammenhange liegen. So koͤn-
nen wir dieſe hermeneutiſche Aufgabe nur dann vollſtaͤndig zu loͤſen
unternehmen, wo wir beſtimmte Extreme finden.
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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 223. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/247>, abgerufen am 04.12.2024.
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