und sei da einem andern Princip gefolgt. Vergleichen wir ihn mit Johannes, so zeigt sich darin eine bestimmte Differenz, daß im Johannes ein Wechsel ist zwischen dem öffentlichen Leben Jesu zu Jerusalem und in Galiläa, im Lukas dagegen Jerusalem nur im Zusammenhange der Leidensgeschichte erwähnt wird, alles vor- hergehende am andern Ort vorgeht. Nehmen wir nun Johannes als Augenzeugen, so müssen wir sagen, entweder Lukas habe darüber keine Nachrichten gehabt, weil seine Quellen nicht im Stande waren, ihm solche zu geben, oder er habe in dieser Hin- sicht eine unrichtige Voraussezung gehabt. Beides ist gleich denk- bar, und wollen wir die Composition erklären, so reicht das eine und das andere hin. Hatte er Nachricht von dem was in Jeru- salem und was an andern Orten geschehen war, und dabei die Voraussezung, daß Jesus nur zulezt dort gewesen, so ist natür- lich, daß er von Jerusalem alles zusammenstellte. Oder war ihm keine solche Zeitbestimmung angegeben, so hat er die Voraussezung selber gemacht, indem es gewiß war, daß Jesu leztes Ende zu Jerusalem gewesen. Auch in diesem Falle ist's natürlich, daß er so zusammenstellte, wie er gethan hat. Darin liegt freilich, daß ihm das Evangelium des Joh. gar nicht bekannt war, woraus aber gar nicht folgt, daß jenes ein späteres gewesen. Denken wir uns, daß er, wie es nach seinem Proömium scheint, einem ordnenden Princip gefolgt ist, und daß er eine allgemeine Vorstellung der Lokalitäten hineingelegt hat, so entsteht die Frage, welches das Princip seiner Composition gewesen ist in Beziehung auf alles Außerhierosolymitanische. Betrachten wir das Ganze genauer, so finden wir Kap. 9,51 -- bis Kap. 19. eine Reise Christi nach Je- rusalem erwähnt, freilich keine Localbestimmungen weiter, als bis Christus in die Nähe von Jerusalem kommt, und so sind alle Erzählungen in diesem Abschnitt unter den Gesichtspunkt einer Reise Christi nach Jerusalem gebracht, die freilich nur als Eine gedacht wird. Es bleiben dann nur die ersten 8 Kapitel, wo wir einzelne Erzählungen in verschiedener Art zusammengestellt finden, analoge von der einen und andern Art, ohne Zeitbestimmung.
Hermeneutik u. Kritik. 15
und ſei da einem andern Princip gefolgt. Vergleichen wir ihn mit Johannes, ſo zeigt ſich darin eine beſtimmte Differenz, daß im Johannes ein Wechſel iſt zwiſchen dem oͤffentlichen Leben Jeſu zu Jeruſalem und in Galilaͤa, im Lukas dagegen Jeruſalem nur im Zuſammenhange der Leidensgeſchichte erwaͤhnt wird, alles vor- hergehende am andern Ort vorgeht. Nehmen wir nun Johannes als Augenzeugen, ſo muͤſſen wir ſagen, entweder Lukas habe daruͤber keine Nachrichten gehabt, weil ſeine Quellen nicht im Stande waren, ihm ſolche zu geben, oder er habe in dieſer Hin- ſicht eine unrichtige Vorausſezung gehabt. Beides iſt gleich denk- bar, und wollen wir die Compoſition erklaͤren, ſo reicht das eine und das andere hin. Hatte er Nachricht von dem was in Jeru- ſalem und was an andern Orten geſchehen war, und dabei die Vorausſezung, daß Jeſus nur zulezt dort geweſen, ſo iſt natuͤr- lich, daß er von Jeruſalem alles zuſammenſtellte. Oder war ihm keine ſolche Zeitbeſtimmung angegeben, ſo hat er die Vorausſezung ſelber gemacht, indem es gewiß war, daß Jeſu leztes Ende zu Jeruſalem geweſen. Auch in dieſem Falle iſt's natuͤrlich, daß er ſo zuſammenſtellte, wie er gethan hat. Darin liegt freilich, daß ihm das Evangelium des Joh. gar nicht bekannt war, woraus aber gar nicht folgt, daß jenes ein ſpaͤteres geweſen. Denken wir uns, daß er, wie es nach ſeinem Prooͤmium ſcheint, einem ordnenden Princip gefolgt iſt, und daß er eine allgemeine Vorſtellung der Lokalitaͤten hineingelegt hat, ſo entſteht die Frage, welches das Princip ſeiner Compoſition geweſen iſt in Beziehung auf alles Außerhieroſolymitaniſche. Betrachten wir das Ganze genauer, ſo finden wir Kap. 9,51 — bis Kap. 19. eine Reiſe Chriſti nach Je- ruſalem erwaͤhnt, freilich keine Localbeſtimmungen weiter, als bis Chriſtus in die Naͤhe von Jeruſalem kommt, und ſo ſind alle Erzaͤhlungen in dieſem Abſchnitt unter den Geſichtspunkt einer Reiſe Chriſti nach Jeruſalem gebracht, die freilich nur als Eine gedacht wird. Es bleiben dann nur die erſten 8 Kapitel, wo wir einzelne Erzaͤhlungen in verſchiedener Art zuſammengeſtellt finden, analoge von der einen und andern Art, ohne Zeitbeſtimmung.
Hermeneutik u. Kritik. 15
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und ſei da einem andern Princip gefolgt. Vergleichen wir ihn
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im Johannes ein Wechſel iſt zwiſchen dem oͤffentlichen Leben Jeſu
zu Jeruſalem und in Galilaͤa, im Lukas dagegen Jeruſalem nur
im Zuſammenhange der Leidensgeſchichte erwaͤhnt wird, alles vor-
hergehende am andern Ort vorgeht. Nehmen wir nun Johannes
als Augenzeugen, ſo muͤſſen wir ſagen, entweder Lukas habe
daruͤber keine Nachrichten gehabt, weil ſeine Quellen nicht im
Stande waren, ihm ſolche zu geben, oder er habe in dieſer Hin-
ſicht eine unrichtige Vorausſezung gehabt. Beides iſt gleich denk-
bar, und wollen wir die Compoſition erklaͤren, ſo reicht das eine
und das andere hin. Hatte er Nachricht von dem was in Jeru-
ſalem und was an andern Orten geſchehen war, und dabei die
Vorausſezung, daß Jeſus nur zulezt dort geweſen, ſo iſt natuͤr-
lich, daß er von Jeruſalem alles zuſammenſtellte. Oder war ihm
keine ſolche Zeitbeſtimmung angegeben, ſo hat er die Vorausſezung
ſelber gemacht, indem es gewiß war, daß Jeſu leztes Ende zu
Jeruſalem geweſen. Auch in dieſem Falle iſt's natuͤrlich, daß er
ſo zuſammenſtellte, wie er gethan hat. Darin liegt freilich, daß
ihm das Evangelium des Joh. gar nicht bekannt war, woraus aber
gar nicht folgt, daß jenes ein ſpaͤteres geweſen. Denken wir uns,
daß er, wie es nach ſeinem Prooͤmium ſcheint, einem ordnenden
Princip gefolgt iſt, und daß er eine allgemeine Vorſtellung der
Lokalitaͤten hineingelegt hat, ſo entſteht die Frage, welches das
Princip ſeiner Compoſition geweſen iſt in Beziehung auf alles
Außerhieroſolymitaniſche. Betrachten wir das Ganze genauer, ſo
finden wir Kap. 9,51 — bis Kap. 19. eine Reiſe Chriſti nach Je-
ruſalem erwaͤhnt, freilich keine Localbeſtimmungen weiter, als bis
Chriſtus in die Naͤhe von Jeruſalem kommt, und ſo ſind alle
Erzaͤhlungen in dieſem Abſchnitt unter den Geſichtspunkt einer
Reiſe Chriſti nach Jeruſalem gebracht, die freilich nur als Eine
gedacht wird. Es bleiben dann nur die erſten 8 Kapitel, wo wir
einzelne Erzaͤhlungen in verſchiedener Art zuſammengeſtellt finden,
analoge von der einen und andern Art, ohne Zeitbeſtimmung.
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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 225. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/249>, abgerufen am 04.12.2024.
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