Jesu die Spize sind, mit solchen Thatsachen aus dem Leben Jesu, die an und für sich erzählt werden. Dieß ist der Typus des Evange- liums im Allgemeinen. Betrachten wir nun das Ganze, in Beziehung auf die Zusammenstellung, so unterscheiden wir 3 Massen. Die erste umfaßt alles, was dem öffentlichen Leben Jesu vorangeht, die dritte die Leidens- und Auferstehungsgeschichte, und in der Mitte liegt ein Aggregat von Erzählungen aus dem öffentlichen Leben Jesu, wie wir es eben beschrieben haben. Die Leidensgeschichte ist im gewissen Sinne ein Continuum, aber man kann doch bestimmt unterscheiden die Geschichte von der Gefangennehmung bis zum Tode und die Geschichte von der Auferstehung. In der ersten Masse kann man auch wieder sondern zwei Haupttheile, den ei- nen, der alles enthält, was sich auf die Geburt Christi bezieht, und den andern, der sich auf die Taufe Christi bezieht. Die mitt- lere Masse besteht aus zusondernden und nur durch bestimmte Formeln verknüpften Einzelnheiten. Ist nun im Ganzen eine biographische Tendenz sichtbar? Insofern mehr, als bei Johannes und Markus, als dieß Evangelium mehr die ganze Person Jesu umfaßt. Allein es fehlt gerade dem mittleren, dem Haupttheile, an Einheit, an Continuität. Wir können nun als Princip dieses Theiles ansehen, Einzelheiten zusammenzustellen, auch auszu- wählen, da sich schwerlich denken läßt, daß er nicht mehrerer Einzel- heiten hätte habhaft werden können. Allein wie er ausgewählt wissen wir nicht, da wir die Quellen nicht kennen, woraus er seine Materialien genommen hat. Wir finden, daß die Reden, die Thatsachen mit Aussprüchen Christi, als ihren Spizen, end- lich solche Thatsachen, die um ihrer selbst willen erzählt werden, untereinander gemischt sind, und dann in bestimmte Massen ge- theilt. Was für ein Princip dabei obgewaltet, können wir nicht vollständig beurtheilen, weil uns eben das Princip der Auswahl fehlt. Wir können im Allgemeinen nur das Bestreben nach einem gewissen Wechsel annehmen, welches modificirt ist durch eine ge- wisse Anziehung des Analogen. Mehr läßt sich aus dem Werke selbst nicht abnehmen. Aber die Frage über den Verfasser kann
Jeſu die Spize ſind, mit ſolchen Thatſachen aus dem Leben Jeſu, die an und fuͤr ſich erzaͤhlt werden. Dieß iſt der Typus des Evange- liums im Allgemeinen. Betrachten wir nun das Ganze, in Beziehung auf die Zuſammenſtellung, ſo unterſcheiden wir 3 Maſſen. Die erſte umfaßt alles, was dem oͤffentlichen Leben Jeſu vorangeht, die dritte die Leidens- und Auferſtehungsgeſchichte, und in der Mitte liegt ein Aggregat von Erzaͤhlungen aus dem oͤffentlichen Leben Jeſu, wie wir es eben beſchrieben haben. Die Leidensgeſchichte iſt im gewiſſen Sinne ein Continuum, aber man kann doch beſtimmt unterſcheiden die Geſchichte von der Gefangennehmung bis zum Tode und die Geſchichte von der Auferſtehung. In der erſten Maſſe kann man auch wieder ſondern zwei Haupttheile, den ei- nen, der alles enthaͤlt, was ſich auf die Geburt Chriſti bezieht, und den andern, der ſich auf die Taufe Chriſti bezieht. Die mitt- lere Maſſe beſteht aus zuſondernden und nur durch beſtimmte Formeln verknuͤpften Einzelnheiten. Iſt nun im Ganzen eine biographiſche Tendenz ſichtbar? Inſofern mehr, als bei Johannes und Markus, als dieß Evangelium mehr die ganze Perſon Jeſu umfaßt. Allein es fehlt gerade dem mittleren, dem Haupttheile, an Einheit, an Continuitaͤt. Wir koͤnnen nun als Princip dieſes Theiles anſehen, Einzelheiten zuſammenzuſtellen, auch auszu- waͤhlen, da ſich ſchwerlich denken laͤßt, daß er nicht mehrerer Einzel- heiten haͤtte habhaft werden koͤnnen. Allein wie er ausgewaͤhlt wiſſen wir nicht, da wir die Quellen nicht kennen, woraus er ſeine Materialien genommen hat. Wir finden, daß die Reden, die Thatſachen mit Ausſpruͤchen Chriſti, als ihren Spizen, end- lich ſolche Thatſachen, die um ihrer ſelbſt willen erzaͤhlt werden, untereinander gemiſcht ſind, und dann in beſtimmte Maſſen ge- theilt. Was fuͤr ein Princip dabei obgewaltet, koͤnnen wir nicht vollſtaͤndig beurtheilen, weil uns eben das Princip der Auswahl fehlt. Wir koͤnnen im Allgemeinen nur das Beſtreben nach einem gewiſſen Wechſel annehmen, welches modificirt iſt durch eine ge- wiſſe Anziehung des Analogen. Mehr laͤßt ſich aus dem Werke ſelbſt nicht abnehmen. Aber die Frage uͤber den Verfaſſer kann
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Jeſu die Spize ſind, mit ſolchen Thatſachen aus dem Leben Jeſu,
die an und fuͤr ſich erzaͤhlt werden. Dieß iſt der Typus des Evange-
liums im Allgemeinen. Betrachten wir nun das Ganze, in Beziehung
auf die Zuſammenſtellung, ſo unterſcheiden wir 3 Maſſen. Die erſte
umfaßt alles, was dem oͤffentlichen Leben Jeſu vorangeht, die dritte
die Leidens- und Auferſtehungsgeſchichte, und in der Mitte liegt
ein Aggregat von Erzaͤhlungen aus dem oͤffentlichen Leben Jeſu,
wie wir es eben beſchrieben haben. Die Leidensgeſchichte iſt im
gewiſſen Sinne ein Continuum, aber man kann doch beſtimmt
unterſcheiden die Geſchichte von der Gefangennehmung bis zum
Tode und die Geſchichte von der Auferſtehung. In der erſten
Maſſe kann man auch wieder ſondern zwei Haupttheile, den ei-
nen, der alles enthaͤlt, was ſich auf die Geburt Chriſti bezieht,
und den andern, der ſich auf die Taufe Chriſti bezieht. Die mitt-
lere Maſſe beſteht aus zuſondernden und nur durch beſtimmte
Formeln verknuͤpften Einzelnheiten. Iſt nun im Ganzen eine
biographiſche Tendenz ſichtbar? Inſofern mehr, als bei Johannes
und Markus, als dieß Evangelium mehr die ganze Perſon Jeſu
umfaßt. Allein es fehlt gerade dem mittleren, dem Haupttheile,
an Einheit, an Continuitaͤt. Wir koͤnnen nun als Princip dieſes
Theiles anſehen, Einzelheiten zuſammenzuſtellen, auch auszu-
waͤhlen, da ſich ſchwerlich denken laͤßt, daß er nicht mehrerer Einzel-
heiten haͤtte habhaft werden koͤnnen. Allein wie er ausgewaͤhlt
wiſſen wir nicht, da wir die Quellen nicht kennen, woraus er
ſeine Materialien genommen hat. Wir finden, daß die Reden,
die Thatſachen mit Ausſpruͤchen Chriſti, als ihren Spizen, end-
lich ſolche Thatſachen, die um ihrer ſelbſt willen erzaͤhlt werden,
untereinander gemiſcht ſind, und dann in beſtimmte Maſſen ge-
theilt. Was fuͤr ein Princip dabei obgewaltet, koͤnnen wir nicht
vollſtaͤndig beurtheilen, weil uns eben das Princip der Auswahl
fehlt. Wir koͤnnen im Allgemeinen nur das Beſtreben nach einem
gewiſſen Wechſel annehmen, welches modificirt iſt durch eine ge-
wiſſe Anziehung des Analogen. Mehr laͤßt ſich aus dem Werke
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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 228. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/252>, abgerufen am 05.12.2024.
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