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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838.

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wobei gleichmäßig alles Einzelne und die Composition dem Ver-
fasser eigenthümlich angehören. Bei den übrigen historischen Bü-
chern ist es nicht so. Da ist die abnorme Beschaffenheit vorzugs-
weise aus den Verhältnissen der Zeit zu erklären. Aber es wäre
auch jezt unmöglich, eine Biographie aus solchen einzelnen Zü-
gen, Thatsachen, Reden zusammenzusezen. Es giebt zwar eine
Menge einzelner Züge von bekannten Männern. Hätten wir
nun auch dazu, was sie in einzelnen Fällen gesagt, ohne aus
dem was sie geschrieben haben zu nehmen, -- eine Lebensbeschrei-
bung daraus zu machen, wäre doch der Zeit völlig unangemessen,
weil das Schreiben jezt unter ganz andern Verhältnissen gesche-
hen muß, als damals, wo es eine große Nebensache sein konnte,
und jeder, der der christlichen Kirche angehörte, nur ein Mini-
mum von Kräften darauf verwenden konnte. Das gilt eben so
gut von den neutest. Briefen. Wir können uns im apostolischen
Zeitalter die beiden Elemente leicht zusammenconstruiren, worauf
die geschichtliche Darstellung beruhte. Es gab ein Interesse, das
Einzelne aus dem Leben Christi in der Kirche lebendig zu erhalten,
und die Erinnerung an den ersten Anfang der Kirche zu fixi-
ren, nachdem sie eine größere Existenz gewonnen. Das In-
teresse erschöpfte sich in solchen Aggregaten einzelner Erzählun-
gen. Die Zusammenstellung des schriftlich Verfaßten war durch-
aus am Ende Nebensache, da es wenige in der Kirche gab,
welche das Bücherlesen betreiben konnten. -- Die Briefe ver-
traten die Stelle der unmittelbaren mündlichen Rede und waren
auch nur für den Effect des Augenblicks. Das Schreiben dersel-
ben war nur durch die Ferne bedingt und die Aufbewahrung nur
Wirkung des Interesse an den ausgezeichneten Männern, welche
sie geschrieben. Kein Apostel hat geschrieben, damit es künftig
gelesen werden sollte. Solche litterarische Tendenzen lagen ganz
außer ihrem Kreise. -- Die Schriften des Lukas sind an einen
einzelnen Mann gerichtet, der sich für die christliche Sache inte-
ressirte. Lukas braucht gar nicht für diesen allein geschrieben zu
haben, aber die Beziehung auf ihn war doch mehr als eine bloße

wobei gleichmaͤßig alles Einzelne und die Compoſition dem Ver-
faſſer eigenthuͤmlich angehoͤren. Bei den uͤbrigen hiſtoriſchen Buͤ-
chern iſt es nicht ſo. Da iſt die abnorme Beſchaffenheit vorzugs-
weiſe aus den Verhaͤltniſſen der Zeit zu erklaͤren. Aber es waͤre
auch jezt unmoͤglich, eine Biographie aus ſolchen einzelnen Zuͤ-
gen, Thatſachen, Reden zuſammenzuſezen. Es giebt zwar eine
Menge einzelner Zuͤge von bekannten Maͤnnern. Haͤtten wir
nun auch dazu, was ſie in einzelnen Faͤllen geſagt, ohne aus
dem was ſie geſchrieben haben zu nehmen, — eine Lebensbeſchrei-
bung daraus zu machen, waͤre doch der Zeit voͤllig unangemeſſen,
weil das Schreiben jezt unter ganz andern Verhaͤltniſſen geſche-
hen muß, als damals, wo es eine große Nebenſache ſein konnte,
und jeder, der der chriſtlichen Kirche angehoͤrte, nur ein Mini-
mum von Kraͤften darauf verwenden konnte. Das gilt eben ſo
gut von den neuteſt. Briefen. Wir koͤnnen uns im apoſtoliſchen
Zeitalter die beiden Elemente leicht zuſammenconſtruiren, worauf
die geſchichtliche Darſtellung beruhte. Es gab ein Intereſſe, das
Einzelne aus dem Leben Chriſti in der Kirche lebendig zu erhalten,
und die Erinnerung an den erſten Anfang der Kirche zu fixi-
ren, nachdem ſie eine groͤßere Exiſtenz gewonnen. Das In-
tereſſe erſchoͤpfte ſich in ſolchen Aggregaten einzelner Erzaͤhlun-
gen. Die Zuſammenſtellung des ſchriftlich Verfaßten war durch-
aus am Ende Nebenſache, da es wenige in der Kirche gab,
welche das Buͤcherleſen betreiben konnten. — Die Briefe ver-
traten die Stelle der unmittelbaren muͤndlichen Rede und waren
auch nur fuͤr den Effect des Augenblicks. Das Schreiben derſel-
ben war nur durch die Ferne bedingt und die Aufbewahrung nur
Wirkung des Intereſſe an den ausgezeichneten Maͤnnern, welche
ſie geſchrieben. Kein Apoſtel hat geſchrieben, damit es kuͤnftig
geleſen werden ſollte. Solche litterariſche Tendenzen lagen ganz
außer ihrem Kreiſe. — Die Schriften des Lukas ſind an einen
einzelnen Mann gerichtet, der ſich fuͤr die chriſtliche Sache inte-
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haben, aber die Beziehung auf ihn war doch mehr als eine bloße

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[234/0258] wobei gleichmaͤßig alles Einzelne und die Compoſition dem Ver- faſſer eigenthuͤmlich angehoͤren. Bei den uͤbrigen hiſtoriſchen Buͤ- chern iſt es nicht ſo. Da iſt die abnorme Beſchaffenheit vorzugs- weiſe aus den Verhaͤltniſſen der Zeit zu erklaͤren. Aber es waͤre auch jezt unmoͤglich, eine Biographie aus ſolchen einzelnen Zuͤ- gen, Thatſachen, Reden zuſammenzuſezen. Es giebt zwar eine Menge einzelner Zuͤge von bekannten Maͤnnern. Haͤtten wir nun auch dazu, was ſie in einzelnen Faͤllen geſagt, ohne aus dem was ſie geſchrieben haben zu nehmen, — eine Lebensbeſchrei- bung daraus zu machen, waͤre doch der Zeit voͤllig unangemeſſen, weil das Schreiben jezt unter ganz andern Verhaͤltniſſen geſche- hen muß, als damals, wo es eine große Nebenſache ſein konnte, und jeder, der der chriſtlichen Kirche angehoͤrte, nur ein Mini- mum von Kraͤften darauf verwenden konnte. Das gilt eben ſo gut von den neuteſt. Briefen. Wir koͤnnen uns im apoſtoliſchen Zeitalter die beiden Elemente leicht zuſammenconſtruiren, worauf die geſchichtliche Darſtellung beruhte. Es gab ein Intereſſe, das Einzelne aus dem Leben Chriſti in der Kirche lebendig zu erhalten, und die Erinnerung an den erſten Anfang der Kirche zu fixi- ren, nachdem ſie eine groͤßere Exiſtenz gewonnen. Das In- tereſſe erſchoͤpfte ſich in ſolchen Aggregaten einzelner Erzaͤhlun- gen. Die Zuſammenſtellung des ſchriftlich Verfaßten war durch- aus am Ende Nebenſache, da es wenige in der Kirche gab, welche das Buͤcherleſen betreiben konnten. — Die Briefe ver- traten die Stelle der unmittelbaren muͤndlichen Rede und waren auch nur fuͤr den Effect des Augenblicks. Das Schreiben derſel- ben war nur durch die Ferne bedingt und die Aufbewahrung nur Wirkung des Intereſſe an den ausgezeichneten Maͤnnern, welche ſie geſchrieben. Kein Apoſtel hat geſchrieben, damit es kuͤnftig geleſen werden ſollte. Solche litterariſche Tendenzen lagen ganz außer ihrem Kreiſe. — Die Schriften des Lukas ſind an einen einzelnen Mann gerichtet, der ſich fuͤr die chriſtliche Sache inte- reſſirte. Lukas braucht gar nicht fuͤr dieſen allein geſchrieben zu haben, aber die Beziehung auf ihn war doch mehr als eine bloße

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Zitationshilfe: Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 234. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/258>, abgerufen am 05.12.2024.