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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838.

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Dedication; es war aber nur eine verhältnißmäßig kleine Zahl,
auf die solche Schriften rechnen konnten. Eben so soll Matthäus
sein Werk geschrieben haben, wie er Palästina verlassen, also als
eine Reminiscenz an seinen mündlichen Vortrag. Die Nachricht
mag wahr sein oder nicht, es liegt darin die richtige Andeutung,
daß man eben nur aus solchen bestimmten Motiven schrieb. Die
Sage, Johannes habe die drei ersten Evangelien ergänzen wollen,
hat und verdient keinen Glauben. Aber es liegt darin das Wahre
angedeutet, daß Johannes sein Evangelium nur in späterer Zeit
und Muße schreiben konnte.

Bei unsrem jezigen philologischen Zustande ist nicht zu erwar-
ten, daß einer noch sagt, die drei ersten Evangelien habe einer
schreiben können, der eine Lebensbeschreibung habe schreiben wol-
len. Es kann nur darauf ankommen, das Princip der Zusam-
menstellung vorhandener Materialien zu finden und den Grad
der Willkühr zu bestimmen, welche jeder Componist über sein
Material ausgeübt. Da werden sich nicht unbedeutende Differen-
zen zeigen unter den drei ersten Evangelisten. Der eine scheint
seine Kunst ganz in der Anordnung zu erschöpfen und sich über
seine Materialien nichts anderes erlaubt zu haben als Gleichmä-
ßigkeit der Sprache hervorzubringen, der andere scheint sich so
viel Willkühr gestattet zu haben, daß er manches hinzusezt, was
der Natur seiner Erzählungen eigentlich nicht angemessen war, --
der dritte scheint ein zusammengeseztes Princip der Anordnung
gehabt und mehr Analoges eingeschaltet zu haben. So hat jeder
seinen eigenen Charakter. Aber dieser liegt in etwas anderm als
in der Einheit der Composition. Wir finden bei allen dieselbe Ge-
bundenheit an gegebene Materialien, wobei nur noch die Auswahl zu
bestimmen bleibt, die jeder gemacht. Allein darüber können wir
nur in sofern urtheilen, als wir in Anschlag bringen können,
was der eine hat und dem andern fehlt und das ist nicht viel.
Betrachten wir das Princip der Anordnung, so ist es bei den drei
ersten Evangelisten eben nur dieß, alles Hierosolymitanische an
das Ende des Lebens Christi zu sezen, alles außer Jerusalem Ge-

Dedication; es war aber nur eine verhaͤltnißmaͤßig kleine Zahl,
auf die ſolche Schriften rechnen konnten. Eben ſo ſoll Matthaͤus
ſein Werk geſchrieben haben, wie er Palaͤſtina verlaſſen, alſo als
eine Reminiſcenz an ſeinen muͤndlichen Vortrag. Die Nachricht
mag wahr ſein oder nicht, es liegt darin die richtige Andeutung,
daß man eben nur aus ſolchen beſtimmten Motiven ſchrieb. Die
Sage, Johannes habe die drei erſten Evangelien ergaͤnzen wollen,
hat und verdient keinen Glauben. Aber es liegt darin das Wahre
angedeutet, daß Johannes ſein Evangelium nur in ſpaͤterer Zeit
und Muße ſchreiben konnte.

Bei unſrem jezigen philologiſchen Zuſtande iſt nicht zu erwar-
ten, daß einer noch ſagt, die drei erſten Evangelien habe einer
ſchreiben koͤnnen, der eine Lebensbeſchreibung habe ſchreiben wol-
len. Es kann nur darauf ankommen, das Princip der Zuſam-
menſtellung vorhandener Materialien zu finden und den Grad
der Willkuͤhr zu beſtimmen, welche jeder Componiſt uͤber ſein
Material ausgeuͤbt. Da werden ſich nicht unbedeutende Differen-
zen zeigen unter den drei erſten Evangeliſten. Der eine ſcheint
ſeine Kunſt ganz in der Anordnung zu erſchoͤpfen und ſich uͤber
ſeine Materialien nichts anderes erlaubt zu haben als Gleichmaͤ-
ßigkeit der Sprache hervorzubringen, der andere ſcheint ſich ſo
viel Willkuͤhr geſtattet zu haben, daß er manches hinzuſezt, was
der Natur ſeiner Erzaͤhlungen eigentlich nicht angemeſſen war, —
der dritte ſcheint ein zuſammengeſeztes Princip der Anordnung
gehabt und mehr Analoges eingeſchaltet zu haben. So hat jeder
ſeinen eigenen Charakter. Aber dieſer liegt in etwas anderm als
in der Einheit der Compoſition. Wir finden bei allen dieſelbe Ge-
bundenheit an gegebene Materialien, wobei nur noch die Auswahl zu
beſtimmen bleibt, die jeder gemacht. Allein daruͤber koͤnnen wir
nur in ſofern urtheilen, als wir in Anſchlag bringen koͤnnen,
was der eine hat und dem andern fehlt und das iſt nicht viel.
Betrachten wir das Princip der Anordnung, ſo iſt es bei den drei
erſten Evangeliſten eben nur dieß, alles Hieroſolymitaniſche an
das Ende des Lebens Chriſti zu ſezen, alles außer Jeruſalem Ge-

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[235/0259] Dedication; es war aber nur eine verhaͤltnißmaͤßig kleine Zahl, auf die ſolche Schriften rechnen konnten. Eben ſo ſoll Matthaͤus ſein Werk geſchrieben haben, wie er Palaͤſtina verlaſſen, alſo als eine Reminiſcenz an ſeinen muͤndlichen Vortrag. Die Nachricht mag wahr ſein oder nicht, es liegt darin die richtige Andeutung, daß man eben nur aus ſolchen beſtimmten Motiven ſchrieb. Die Sage, Johannes habe die drei erſten Evangelien ergaͤnzen wollen, hat und verdient keinen Glauben. Aber es liegt darin das Wahre angedeutet, daß Johannes ſein Evangelium nur in ſpaͤterer Zeit und Muße ſchreiben konnte. Bei unſrem jezigen philologiſchen Zuſtande iſt nicht zu erwar- ten, daß einer noch ſagt, die drei erſten Evangelien habe einer ſchreiben koͤnnen, der eine Lebensbeſchreibung habe ſchreiben wol- len. Es kann nur darauf ankommen, das Princip der Zuſam- menſtellung vorhandener Materialien zu finden und den Grad der Willkuͤhr zu beſtimmen, welche jeder Componiſt uͤber ſein Material ausgeuͤbt. Da werden ſich nicht unbedeutende Differen- zen zeigen unter den drei erſten Evangeliſten. Der eine ſcheint ſeine Kunſt ganz in der Anordnung zu erſchoͤpfen und ſich uͤber ſeine Materialien nichts anderes erlaubt zu haben als Gleichmaͤ- ßigkeit der Sprache hervorzubringen, der andere ſcheint ſich ſo viel Willkuͤhr geſtattet zu haben, daß er manches hinzuſezt, was der Natur ſeiner Erzaͤhlungen eigentlich nicht angemeſſen war, — der dritte ſcheint ein zuſammengeſeztes Princip der Anordnung gehabt und mehr Analoges eingeſchaltet zu haben. So hat jeder ſeinen eigenen Charakter. Aber dieſer liegt in etwas anderm als in der Einheit der Compoſition. Wir finden bei allen dieſelbe Ge- bundenheit an gegebene Materialien, wobei nur noch die Auswahl zu beſtimmen bleibt, die jeder gemacht. Allein daruͤber koͤnnen wir nur in ſofern urtheilen, als wir in Anſchlag bringen koͤnnen, was der eine hat und dem andern fehlt und das iſt nicht viel. Betrachten wir das Princip der Anordnung, ſo iſt es bei den drei erſten Evangeliſten eben nur dieß, alles Hieroſolymitaniſche an das Ende des Lebens Chriſti zu ſezen, alles außer Jeruſalem Ge-

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Zitationshilfe: Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 235. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/259>, abgerufen am 05.12.2024.