Denken wir uns aber, daß ein Abschreiber in seiner Urschrift etwas zwischen den Zeilen oder am Rande geschrieben findet, und ungewiß wird, ob er es einschalten oder übergehen soll. Das Übergeschriebene kann sich zu dem eigentlichen Text verhalten als Veränderung oder Einschaltung. Es hätte das Verhältniß be- stimmt sollen angedeutet werden, es ist aber nicht der Fall. Läßt der Abschreiber das Eingeschaltete aus, weil er es für eine Veränderung hielt, oder nahm er die Veränderung auf, weil er es für eine Einschaltung hielt, so wird im ersten Falle etwas fehlen, in diesem zweimal dasselbe, also zuviel stehen. Eben so bei Randglossen, welche entweder Einschaltungen oder Erklärun- gen sein können. In allen diesen Fällen beruht die Differenz auf einer freien Handlung, weil auf einem Urtheil über That- sachen. Diese Genesis der kritischen Aufgabe ist von dem Um- fange, der Größe dessen was aufgenommen oder weggelassen wird, ganz unabhängig. Was durch bloß mechanische Fehler ausgelassen wird, kann bedeutend groß sein, ganze Zeilen, bedeutend klein dagegen, was durch Freiheit, durch Urtheil aufgenommen oder ausgelassen wird. Nicht auf den quantitativen Unterschied, son- dern auf die Genesis der Differenz kommt es an, wenn Regeln festgestellt werden sollen.
Noch ist der Fall besonders zu betrachten, wie ein Zweifel über den Verfasser einer Schrift entsteht. Man denke sich einen Codex, der mehrere Platonische Gespräche enthält, aber nur un- ter ihrer Überschrift, und ohne den Namen des Verfassers, weil man voraussezte, derselbe sei bekannt. Dahinter ist ein anderes Gespräch, auch mit seiner Überschrift, aber wie die ersteren, unter derselben Voraussezung, auch ohne Namen des Verfassers. Schreibt nun einer das lezte Gespräch allein ab, und sezt, weil er es auch für ein Platonisches hält, den Namen Platons als des Verfassers darüber, so ist das ein Irrthum, der aus einer freien Handlung entstanden ist; derselbe kann sich optima fide fortpflanzen in sonst vollkommen richtigen Abschriften. Es fragt sich nun, ob das Ur- theil der Thatsache entspricht oder nicht, der Dialog von Platon
Denken wir uns aber, daß ein Abſchreiber in ſeiner Urſchrift etwas zwiſchen den Zeilen oder am Rande geſchrieben findet, und ungewiß wird, ob er es einſchalten oder uͤbergehen ſoll. Das Übergeſchriebene kann ſich zu dem eigentlichen Text verhalten als Veraͤnderung oder Einſchaltung. Es haͤtte das Verhaͤltniß be- ſtimmt ſollen angedeutet werden, es iſt aber nicht der Fall. Laͤßt der Abſchreiber das Eingeſchaltete aus, weil er es fuͤr eine Veraͤnderung hielt, oder nahm er die Veraͤnderung auf, weil er es fuͤr eine Einſchaltung hielt, ſo wird im erſten Falle etwas fehlen, in dieſem zweimal daſſelbe, alſo zuviel ſtehen. Eben ſo bei Randgloſſen, welche entweder Einſchaltungen oder Erklaͤrun- gen ſein koͤnnen. In allen dieſen Faͤllen beruht die Differenz auf einer freien Handlung, weil auf einem Urtheil uͤber That- ſachen. Dieſe Geneſis der kritiſchen Aufgabe iſt von dem Um- fange, der Groͤße deſſen was aufgenommen oder weggelaſſen wird, ganz unabhaͤngig. Was durch bloß mechaniſche Fehler ausgelaſſen wird, kann bedeutend groß ſein, ganze Zeilen, bedeutend klein dagegen, was durch Freiheit, durch Urtheil aufgenommen oder ausgelaſſen wird. Nicht auf den quantitativen Unterſchied, ſon- dern auf die Geneſis der Differenz kommt es an, wenn Regeln feſtgeſtellt werden ſollen.
Noch iſt der Fall beſonders zu betrachten, wie ein Zweifel uͤber den Verfaſſer einer Schrift entſteht. Man denke ſich einen Codex, der mehrere Platoniſche Geſpraͤche enthaͤlt, aber nur un- ter ihrer Überſchrift, und ohne den Namen des Verfaſſers, weil man vorausſezte, derſelbe ſei bekannt. Dahinter iſt ein anderes Geſpraͤch, auch mit ſeiner Überſchrift, aber wie die erſteren, unter derſelben Vorausſezung, auch ohne Namen des Verfaſſers. Schreibt nun einer das lezte Geſpraͤch allein ab, und ſezt, weil er es auch fuͤr ein Platoniſches haͤlt, den Namen Platons als des Verfaſſers daruͤber, ſo iſt das ein Irrthum, der aus einer freien Handlung entſtanden iſt; derſelbe kann ſich optima fide fortpflanzen in ſonſt vollkommen richtigen Abſchriften. Es fragt ſich nun, ob das Ur- theil der Thatſache entſpricht oder nicht, der Dialog von Platon
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Denken wir uns aber, daß ein Abſchreiber in ſeiner Urſchrift
etwas zwiſchen den Zeilen oder am Rande geſchrieben findet, und
ungewiß wird, ob er es einſchalten oder uͤbergehen ſoll. Das
Übergeſchriebene kann ſich zu dem eigentlichen Text verhalten als
Veraͤnderung oder Einſchaltung. Es haͤtte das Verhaͤltniß be-
ſtimmt ſollen angedeutet werden, es iſt aber nicht der Fall.
Laͤßt der Abſchreiber das Eingeſchaltete aus, weil er es fuͤr eine
Veraͤnderung hielt, oder nahm er die Veraͤnderung auf, weil er
es fuͤr eine Einſchaltung hielt, ſo wird im erſten Falle etwas
fehlen, in dieſem zweimal daſſelbe, alſo zuviel ſtehen. Eben ſo
bei Randgloſſen, welche entweder Einſchaltungen oder Erklaͤrun-
gen ſein koͤnnen. In allen dieſen Faͤllen beruht die Differenz
auf einer freien Handlung, weil auf einem Urtheil uͤber That-
ſachen. Dieſe Geneſis der kritiſchen Aufgabe iſt von dem Um-
fange, der Groͤße deſſen was aufgenommen oder weggelaſſen wird,
ganz unabhaͤngig. Was durch bloß mechaniſche Fehler ausgelaſſen
wird, kann bedeutend groß ſein, ganze Zeilen, bedeutend klein
dagegen, was durch Freiheit, durch Urtheil aufgenommen oder
ausgelaſſen wird. Nicht auf den quantitativen Unterſchied, ſon-
dern auf die Geneſis der Differenz kommt es an, wenn Regeln
feſtgeſtellt werden ſollen.
Noch iſt der Fall beſonders zu betrachten, wie ein Zweifel
uͤber den Verfaſſer einer Schrift entſteht. Man denke ſich einen
Codex, der mehrere Platoniſche Geſpraͤche enthaͤlt, aber nur un-
ter ihrer Überſchrift, und ohne den Namen des Verfaſſers, weil
man vorausſezte, derſelbe ſei bekannt. Dahinter iſt ein anderes
Geſpraͤch, auch mit ſeiner Überſchrift, aber wie die erſteren, unter
derſelben Vorausſezung, auch ohne Namen des Verfaſſers. Schreibt
nun einer das lezte Geſpraͤch allein ab, und ſezt, weil er es auch
fuͤr ein Platoniſches haͤlt, den Namen Platons als des Verfaſſers
daruͤber, ſo iſt das ein Irrthum, der aus einer freien Handlung
entſtanden iſt; derſelbe kann ſich optima fide fortpflanzen in ſonſt
vollkommen richtigen Abſchriften. Es fragt ſich nun, ob das Ur-
theil der Thatſache entſpricht oder nicht, der Dialog von Platon
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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 280. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/304>, abgerufen am 05.12.2024.
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