kann ich nicht sehen. Dann ist vorläufig die Hypothese aufzu- stellen, daß die recepta Correctur ist oder eine andere uns unbe- kannte Quelle hat, und daß dasjenige, was der kritische Apparat darbietet, ein Fehler ist. Aber eine Zusammenstellung der Fehler, welche sich notorisch als solche in den Handschriften finden, ist noch nicht vollständig aus den kritischen Apparaten zu entnehmen, weil die Vergleichung der Handschriften noch sehr unvollkommen ist.
Durch diese Übung, Lesearten in Beziehung auf ihre Gene- sis zu vergleichen, bildet sich eine Anschauung von den Subsidien und der Beschaffenheit des Textes. Und damit ist man im Stande, in solchen Fällen, wo der wirklich bezeugte alte Text die divinato- rische Kritik erfordert, diese nach den obigen Regeln auszuüben.
Hat man einen Apparat wie den Griesbachschen vor sich, so muß man doch auch auf die Varianten seine Aufmerksamkeit len- ken, welche von geringeren Auctoritäten dargeboten werden. Man mag dann sehen, wiefern sie solche Lösungen sind, die den Regeln genug thun, immer aber darf man sie nur als Erzeugnisse der divinatorischen Kritik ansehen.
Wenn man voraussezen darf, daß jeder Theolog eine ge- wisse Gewöhnung an das classische Alterthum hat, so kennt er von hier aus die Operationen der divinatorischen Kritik. Aber um diese im N. T. üben zu können, muß eine fleißige Lesung des N. T. dazukommen, eine wachsende Bekanntschaft mit den Ei- genthümlichkeiten desselben. In dieser Hinsicht giebt es verschie- dene Hülfsmittel für die eigentliche hermeneutische Operation, die besondern Einfluß auf das Gebiet der Kritik ausüben können. Dieß sind die Sammlungen, worin der Sprachgebrauch alter Schriftsteller mit dem neutest. verglichen wird. Rechnet man ab, daß hier oft Analogien aufgestellt sind, die keine sind, denn der- gleichen wird immer vorkommen, wo gesucht wird, so gewinnt man daraus allerdings eine gewisse Analogie für das divinatori- sche Verfahren im N. T. Wollte man sich dabei immer nur an die neutest. Analogien halten, so würde man oft nur ein reines non liquet aussprechen müssen. Hat man sich aber aber auf die
kann ich nicht ſehen. Dann iſt vorlaͤufig die Hypotheſe aufzu- ſtellen, daß die recepta Correctur iſt oder eine andere uns unbe- kannte Quelle hat, und daß dasjenige, was der kritiſche Apparat darbietet, ein Fehler iſt. Aber eine Zuſammenſtellung der Fehler, welche ſich notoriſch als ſolche in den Handſchriften finden, iſt noch nicht vollſtaͤndig aus den kritiſchen Apparaten zu entnehmen, weil die Vergleichung der Handſchriften noch ſehr unvollkommen iſt.
Durch dieſe Übung, Leſearten in Beziehung auf ihre Gene- ſis zu vergleichen, bildet ſich eine Anſchauung von den Subſidien und der Beſchaffenheit des Textes. Und damit iſt man im Stande, in ſolchen Faͤllen, wo der wirklich bezeugte alte Text die divinato- riſche Kritik erfordert, dieſe nach den obigen Regeln auszuuͤben.
Hat man einen Apparat wie den Griesbachſchen vor ſich, ſo muß man doch auch auf die Varianten ſeine Aufmerkſamkeit len- ken, welche von geringeren Auctoritaͤten dargeboten werden. Man mag dann ſehen, wiefern ſie ſolche Loͤſungen ſind, die den Regeln genug thun, immer aber darf man ſie nur als Erzeugniſſe der divinatoriſchen Kritik anſehen.
Wenn man vorausſezen darf, daß jeder Theolog eine ge- wiſſe Gewoͤhnung an das claſſiſche Alterthum hat, ſo kennt er von hier aus die Operationen der divinatoriſchen Kritik. Aber um dieſe im N. T. uͤben zu koͤnnen, muß eine fleißige Leſung des N. T. dazukommen, eine wachſende Bekanntſchaft mit den Ei- genthuͤmlichkeiten deſſelben. In dieſer Hinſicht giebt es verſchie- dene Huͤlfsmittel fuͤr die eigentliche hermeneutiſche Operation, die beſondern Einfluß auf das Gebiet der Kritik ausuͤben koͤnnen. Dieß ſind die Sammlungen, worin der Sprachgebrauch alter Schriftſteller mit dem neuteſt. verglichen wird. Rechnet man ab, daß hier oft Analogien aufgeſtellt ſind, die keine ſind, denn der- gleichen wird immer vorkommen, wo geſucht wird, ſo gewinnt man daraus allerdings eine gewiſſe Analogie fuͤr das divinatori- ſche Verfahren im N. T. Wollte man ſich dabei immer nur an die neuteſt. Analogien halten, ſo wuͤrde man oft nur ein reines non liquet ausſprechen muͤſſen. Hat man ſich aber aber auf die
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kann ich nicht ſehen. Dann iſt vorlaͤufig die Hypotheſe aufzu-
ſtellen, daß die recepta Correctur iſt oder eine andere uns unbe-
kannte Quelle hat, und daß dasjenige, was der kritiſche Apparat
darbietet, ein Fehler iſt. Aber eine Zuſammenſtellung der Fehler,
welche ſich notoriſch als ſolche in den Handſchriften finden, iſt
noch nicht vollſtaͤndig aus den kritiſchen Apparaten zu entnehmen,
weil die Vergleichung der Handſchriften noch ſehr unvollkommen iſt.
Durch dieſe Übung, Leſearten in Beziehung auf ihre Gene-
ſis zu vergleichen, bildet ſich eine Anſchauung von den Subſidien
und der Beſchaffenheit des Textes. Und damit iſt man im Stande,
in ſolchen Faͤllen, wo der wirklich bezeugte alte Text die divinato-
riſche Kritik erfordert, dieſe nach den obigen Regeln auszuuͤben.
Hat man einen Apparat wie den Griesbachſchen vor ſich, ſo
muß man doch auch auf die Varianten ſeine Aufmerkſamkeit len-
ken, welche von geringeren Auctoritaͤten dargeboten werden. Man
mag dann ſehen, wiefern ſie ſolche Loͤſungen ſind, die den Regeln
genug thun, immer aber darf man ſie nur als Erzeugniſſe der
divinatoriſchen Kritik anſehen.
Wenn man vorausſezen darf, daß jeder Theolog eine ge-
wiſſe Gewoͤhnung an das claſſiſche Alterthum hat, ſo kennt er von
hier aus die Operationen der divinatoriſchen Kritik. Aber um
dieſe im N. T. uͤben zu koͤnnen, muß eine fleißige Leſung des
N. T. dazukommen, eine wachſende Bekanntſchaft mit den Ei-
genthuͤmlichkeiten deſſelben. In dieſer Hinſicht giebt es verſchie-
dene Huͤlfsmittel fuͤr die eigentliche hermeneutiſche Operation, die
beſondern Einfluß auf das Gebiet der Kritik ausuͤben koͤnnen.
Dieß ſind die Sammlungen, worin der Sprachgebrauch alter
Schriftſteller mit dem neuteſt. verglichen wird. Rechnet man ab,
daß hier oft Analogien aufgeſtellt ſind, die keine ſind, denn der-
gleichen wird immer vorkommen, wo geſucht wird, ſo gewinnt
man daraus allerdings eine gewiſſe Analogie fuͤr das divinatori-
ſche Verfahren im N. T. Wollte man ſich dabei immer nur an
die neuteſt. Analogien halten, ſo wuͤrde man oft nur ein reines
non liquet ausſprechen muͤſſen. Hat man ſich aber aber auf die
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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 347. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/371>, abgerufen am 05.12.2024.
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