art, wo und sofern diese Differenz in der gebildeten Rede vor- kommt. Aber es wird nicht in jeder Rede ganz sein, sondern nur nach Maaßgabe der Leser. Wie erfahren wir aber was für Leser sich der Verfasser gedacht? Nur durch den allge- meinen Überblick über die ganze Schrift. Aber diese Bestim- mung des gemeinsamen Gebietes ist nur Anfang und sie muß während der Auslegung fortgesetzt werden und ist erst mit ihr zugleich vollendet.
4. Es kommen von diesem Kanon mancherlei scheinbare Ausnahmen vor: a) Archaismen liegen außer dem un- mittelbaren Sprachgebiet des Verfassers, also eben so seiner Leser. Sie kommen vor um die Vergangenheit mit zu verge- genwärtigen, im Schreiben mehr als im Reden, in der Poesie mehr als in der Prosa. b) Technische Ausdrücke selbst in den populärsten Gattungen, wie z. B. in gerichtlichen und berathenden Reden, letzteres auch wenn nicht alle Zuhörer es verstehen. Dieß führt auf die Bemerkung, daß ein Verfasser auch nicht immer sein ganzes Publikum im Auge hat, sondern auch dieses schwankt. Daher auch eben diese Regel eine Kunst- regel ist deren glückliche Anwendung auf einem richtigen Ge- fühle beruht.
Wir wollen den Saz, keine Regel ohne Ausnahme nicht lieben, denn dann ist die Regel meist zu eng oder zu weit oder zu unbestimmt gefaßt. Aber doch finden wir, daß sich Schriftsteller oft Ausdrücke bedienen, welche dem Sprachgebiete ihrer Leser nicht angehören. Dieß kommt aber daher, daß diese Gemeinschaftlichkeit etwas un- bestimmtes ist von engeren und weiteren Grenzen. Es giebt z. E. Archaismen. Wenn der Schriftsteller zu solchen Ausdrü- cken einen bestimmten Grund hat und der veraltete Ausdruck aus dem Zusammenhang klar werden muß, begeht der Schrift- steller keinen Fehler. Es giebt ferner technische Ausdrücke. Auf dem speciellen Gebiete unvermeidlich; der Leser muß sich mit ih- nen bekannt machen. Werden aber technische Ausdrücke auf einem anderen Gebiet gebraucht, ohne besondere starke Motife, so wird
art, wo und ſofern dieſe Differenz in der gebildeten Rede vor- kommt. Aber es wird nicht in jeder Rede ganz ſein, ſondern nur nach Maaßgabe der Leſer. Wie erfahren wir aber was fuͤr Leſer ſich der Verfaſſer gedacht? Nur durch den allge- meinen Überblick uͤber die ganze Schrift. Aber dieſe Beſtim- mung des gemeinſamen Gebietes iſt nur Anfang und ſie muß waͤhrend der Auslegung fortgeſetzt werden und iſt erſt mit ihr zugleich vollendet.
4. Es kommen von dieſem Kanon mancherlei ſcheinbare Ausnahmen vor: a) Archaismen liegen außer dem un- mittelbaren Sprachgebiet des Verfaſſers, alſo eben ſo ſeiner Leſer. Sie kommen vor um die Vergangenheit mit zu verge- genwaͤrtigen, im Schreiben mehr als im Reden, in der Poeſie mehr als in der Proſa. b) Techniſche Ausdruͤcke ſelbſt in den populaͤrſten Gattungen, wie z. B. in gerichtlichen und berathenden Reden, letzteres auch wenn nicht alle Zuhoͤrer es verſtehen. Dieß fuͤhrt auf die Bemerkung, daß ein Verfaſſer auch nicht immer ſein ganzes Publikum im Auge hat, ſondern auch dieſes ſchwankt. Daher auch eben dieſe Regel eine Kunſt- regel iſt deren gluͤckliche Anwendung auf einem richtigen Ge- fuͤhle beruht.
Wir wollen den Saz, keine Regel ohne Ausnahme nicht lieben, denn dann iſt die Regel meiſt zu eng oder zu weit oder zu unbeſtimmt gefaßt. Aber doch finden wir, daß ſich Schriftſteller oft Ausdruͤcke bedienen, welche dem Sprachgebiete ihrer Leſer nicht angehoͤren. Dieß kommt aber daher, daß dieſe Gemeinſchaftlichkeit etwas un- beſtimmtes iſt von engeren und weiteren Grenzen. Es giebt z. E. Archaismen. Wenn der Schriftſteller zu ſolchen Ausdruͤ- cken einen beſtimmten Grund hat und der veraltete Ausdruck aus dem Zuſammenhang klar werden muß, begeht der Schrift- ſteller keinen Fehler. Es giebt ferner techniſche Ausdruͤcke. Auf dem ſpeciellen Gebiete unvermeidlich; der Leſer muß ſich mit ih- nen bekannt machen. Werden aber techniſche Ausdruͤcke auf einem anderen Gebiet gebraucht, ohne beſondere ſtarke Motife, ſo wird
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0067"n="43"/>
art, wo und ſofern dieſe Differenz in der gebildeten Rede vor-<lb/>
kommt. Aber es wird nicht in jeder Rede ganz ſein, ſondern<lb/>
nur nach Maaßgabe der Leſer. Wie erfahren wir aber was<lb/>
fuͤr Leſer ſich der Verfaſſer gedacht? Nur durch den allge-<lb/>
meinen Überblick uͤber die ganze Schrift. Aber dieſe Beſtim-<lb/>
mung des gemeinſamen Gebietes iſt nur Anfang und ſie muß<lb/>
waͤhrend der Auslegung fortgeſetzt werden und iſt erſt mit ihr<lb/>
zugleich vollendet.</p><lb/><p>4. Es kommen von dieſem Kanon mancherlei ſcheinbare<lb/>
Ausnahmen vor: <hirendition="#aq">a</hi>) <hirendition="#g">Archaismen</hi> liegen außer dem un-<lb/>
mittelbaren Sprachgebiet des Verfaſſers, alſo eben ſo ſeiner<lb/>
Leſer. Sie kommen vor um die Vergangenheit mit zu verge-<lb/>
genwaͤrtigen, im Schreiben mehr als im Reden, in der Poeſie<lb/>
mehr als in der Proſa. <hirendition="#aq">b</hi>) <hirendition="#g">Techniſche Ausdruͤcke</hi>ſelbſt<lb/>
in den populaͤrſten Gattungen, wie z. B. in gerichtlichen und<lb/>
berathenden Reden, letzteres auch wenn nicht alle Zuhoͤrer es<lb/>
verſtehen. Dieß fuͤhrt auf die Bemerkung, daß ein Verfaſſer<lb/>
auch nicht immer ſein ganzes Publikum im Auge hat, ſondern<lb/>
auch dieſes ſchwankt. Daher auch eben dieſe Regel eine Kunſt-<lb/>
regel iſt deren gluͤckliche Anwendung auf einem richtigen Ge-<lb/>
fuͤhle beruht.</p><lb/><p>Wir wollen den Saz, keine Regel ohne Ausnahme nicht lieben, denn<lb/>
dann iſt die Regel meiſt zu eng oder zu weit oder zu unbeſtimmt<lb/>
gefaßt. Aber doch finden wir, daß ſich Schriftſteller oft Ausdruͤcke<lb/>
bedienen, welche dem Sprachgebiete ihrer Leſer nicht angehoͤren.<lb/>
Dieß kommt aber daher, daß dieſe Gemeinſchaftlichkeit etwas un-<lb/>
beſtimmtes iſt von engeren und weiteren Grenzen. Es giebt<lb/>
z. E. Archaismen. Wenn der Schriftſteller zu ſolchen Ausdruͤ-<lb/>
cken einen beſtimmten Grund hat und der veraltete Ausdruck<lb/>
aus dem Zuſammenhang klar werden muß, begeht der Schrift-<lb/>ſteller keinen Fehler. Es giebt ferner techniſche Ausdruͤcke. Auf<lb/>
dem ſpeciellen Gebiete unvermeidlich; der Leſer muß ſich mit ih-<lb/>
nen bekannt machen. Werden aber techniſche Ausdruͤcke auf einem<lb/>
anderen Gebiet gebraucht, ohne beſondere ſtarke Motife, ſo wird<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[43/0067]
art, wo und ſofern dieſe Differenz in der gebildeten Rede vor-
kommt. Aber es wird nicht in jeder Rede ganz ſein, ſondern
nur nach Maaßgabe der Leſer. Wie erfahren wir aber was
fuͤr Leſer ſich der Verfaſſer gedacht? Nur durch den allge-
meinen Überblick uͤber die ganze Schrift. Aber dieſe Beſtim-
mung des gemeinſamen Gebietes iſt nur Anfang und ſie muß
waͤhrend der Auslegung fortgeſetzt werden und iſt erſt mit ihr
zugleich vollendet.
4. Es kommen von dieſem Kanon mancherlei ſcheinbare
Ausnahmen vor: a) Archaismen liegen außer dem un-
mittelbaren Sprachgebiet des Verfaſſers, alſo eben ſo ſeiner
Leſer. Sie kommen vor um die Vergangenheit mit zu verge-
genwaͤrtigen, im Schreiben mehr als im Reden, in der Poeſie
mehr als in der Proſa. b) Techniſche Ausdruͤcke ſelbſt
in den populaͤrſten Gattungen, wie z. B. in gerichtlichen und
berathenden Reden, letzteres auch wenn nicht alle Zuhoͤrer es
verſtehen. Dieß fuͤhrt auf die Bemerkung, daß ein Verfaſſer
auch nicht immer ſein ganzes Publikum im Auge hat, ſondern
auch dieſes ſchwankt. Daher auch eben dieſe Regel eine Kunſt-
regel iſt deren gluͤckliche Anwendung auf einem richtigen Ge-
fuͤhle beruht.
Wir wollen den Saz, keine Regel ohne Ausnahme nicht lieben, denn
dann iſt die Regel meiſt zu eng oder zu weit oder zu unbeſtimmt
gefaßt. Aber doch finden wir, daß ſich Schriftſteller oft Ausdruͤcke
bedienen, welche dem Sprachgebiete ihrer Leſer nicht angehoͤren.
Dieß kommt aber daher, daß dieſe Gemeinſchaftlichkeit etwas un-
beſtimmtes iſt von engeren und weiteren Grenzen. Es giebt
z. E. Archaismen. Wenn der Schriftſteller zu ſolchen Ausdruͤ-
cken einen beſtimmten Grund hat und der veraltete Ausdruck
aus dem Zuſammenhang klar werden muß, begeht der Schrift-
ſteller keinen Fehler. Es giebt ferner techniſche Ausdruͤcke. Auf
dem ſpeciellen Gebiete unvermeidlich; der Leſer muß ſich mit ih-
nen bekannt machen. Werden aber techniſche Ausdruͤcke auf einem
anderen Gebiet gebraucht, ohne beſondere ſtarke Motife, ſo wird
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 43. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/67>, abgerufen am 04.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.