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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838.

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der Schriftsteller nicht ganz verstanden. Deßhalb kann Fr. Rich-
ter wegen der häufigen Ausdrücke aus speciellen Gebieten nicht
auf Klassicität Anspruch machen. Zur Veränderlichkeit der Sprache
in der Zeit gehört die Aufnahme neuer Ausdrücke. Diese ent-
stehen im fortschreitenden Zusammenhange des Denkens und
Aussprechens. So lange die Sprache lebt werden neue Ausdrücke
gemacht. Dieß hat aber seine Schranken. Neue Stammwörter
können nicht aufgebracht werden; nur in Ableitungen und Zu-
sammensetzungen sind neue Wörter denkbar. Die Nothwendigkeit
derselben entsteht sobald ein neues Gedankengebiet gewonnen wird.
Wollte ich in diesem Falle nicht Neues in der eigenen Sprache
bilden, so müßte ich mich in einer fremden Sprache, in der jenes
Gebiet schon behandelt ist, ausdrücken. Sobald uns entgeht, daß
der Verfasser etwas neues sprachliches gebildet hat, so verstehen
wir ihn nicht vollkommen in Beziehung auf die Sprache; es kommt
etwas nicht in unser Bewußtsein, was in dem Bewußtsein des
Verfassers war. Dasselbe gilt von ganzen Phrasen. Und es muß
deßhalb wohl bei allen Werken in Acht genommen werden, welche
die ersten ihrer Gattung waren. Jede Schrift, welche in die
Anfänge eines neuen Gedankengebietes fällt hat die Präsumtion
für sich, daß sie neue Ausdrücke enthalte. Es ist nicht zu ver-
langen, daß das Neue eines Schriftstellers in der Schrift immer
gleich sichtbar ist; es kann gerade das für uns verloren gegangen
sein, worin das Neue zuerst bemerkbar hervortrat. So bei
Plato von dem man weiß, daß er neue Ausdrücke producirte zum
Behuf neuer philosophischer Ideen. Ein großer Theil seiner
Sprachproduktionen ging nachher in alle Schulen über. So er-
scheint uns vieles bekannt, was vielleicht er zuerst in die Sprache
gebracht hat. Bei Plato beruht die Schriftsprache auf dem münd-
lichen Gespräch, wo die Kunstausdrücke zuerst vorgekommen sein
können, was uns nun entgeht, da Plato in seinen Schriften vor-
aussetzen konnte, das Neue, was er gebraucht, sei seinen Lesern
aus seinem Gespräch nicht unbekannt. So entsteht in Betreff
des Neuen Schwierigkeit und Unsicherheit in der Auslegung. --

der Schriftſteller nicht ganz verſtanden. Deßhalb kann Fr. Rich-
ter wegen der haͤufigen Ausdruͤcke aus ſpeciellen Gebieten nicht
auf Klaſſicitaͤt Anſpruch machen. Zur Veraͤnderlichkeit der Sprache
in der Zeit gehoͤrt die Aufnahme neuer Ausdruͤcke. Dieſe ent-
ſtehen im fortſchreitenden Zuſammenhange des Denkens und
Ausſprechens. So lange die Sprache lebt werden neue Ausdruͤcke
gemacht. Dieß hat aber ſeine Schranken. Neue Stammwoͤrter
koͤnnen nicht aufgebracht werden; nur in Ableitungen und Zu-
ſammenſetzungen ſind neue Woͤrter denkbar. Die Nothwendigkeit
derſelben entſteht ſobald ein neues Gedankengebiet gewonnen wird.
Wollte ich in dieſem Falle nicht Neues in der eigenen Sprache
bilden, ſo muͤßte ich mich in einer fremden Sprache, in der jenes
Gebiet ſchon behandelt iſt, ausdruͤcken. Sobald uns entgeht, daß
der Verfaſſer etwas neues ſprachliches gebildet hat, ſo verſtehen
wir ihn nicht vollkommen in Beziehung auf die Sprache; es kommt
etwas nicht in unſer Bewußtſein, was in dem Bewußtſein des
Verfaſſers war. Daſſelbe gilt von ganzen Phraſen. Und es muß
deßhalb wohl bei allen Werken in Acht genommen werden, welche
die erſten ihrer Gattung waren. Jede Schrift, welche in die
Anfaͤnge eines neuen Gedankengebietes faͤllt hat die Praͤſumtion
fuͤr ſich, daß ſie neue Ausdruͤcke enthalte. Es iſt nicht zu ver-
langen, daß das Neue eines Schriftſtellers in der Schrift immer
gleich ſichtbar iſt; es kann gerade das fuͤr uns verloren gegangen
ſein, worin das Neue zuerſt bemerkbar hervortrat. So bei
Plato von dem man weiß, daß er neue Ausdruͤcke producirte zum
Behuf neuer philoſophiſcher Ideen. Ein großer Theil ſeiner
Sprachproduktionen ging nachher in alle Schulen uͤber. So er-
ſcheint uns vieles bekannt, was vielleicht er zuerſt in die Sprache
gebracht hat. Bei Plato beruht die Schriftſprache auf dem muͤnd-
lichen Geſpraͤch, wo die Kunſtausdruͤcke zuerſt vorgekommen ſein
koͤnnen, was uns nun entgeht, da Plato in ſeinen Schriften vor-
ausſetzen konnte, das Neue, was er gebraucht, ſei ſeinen Leſern
aus ſeinem Geſpraͤch nicht unbekannt. So entſteht in Betreff
des Neuen Schwierigkeit und Unſicherheit in der Auslegung. —

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[44/0068] der Schriftſteller nicht ganz verſtanden. Deßhalb kann Fr. Rich- ter wegen der haͤufigen Ausdruͤcke aus ſpeciellen Gebieten nicht auf Klaſſicitaͤt Anſpruch machen. Zur Veraͤnderlichkeit der Sprache in der Zeit gehoͤrt die Aufnahme neuer Ausdruͤcke. Dieſe ent- ſtehen im fortſchreitenden Zuſammenhange des Denkens und Ausſprechens. So lange die Sprache lebt werden neue Ausdruͤcke gemacht. Dieß hat aber ſeine Schranken. Neue Stammwoͤrter koͤnnen nicht aufgebracht werden; nur in Ableitungen und Zu- ſammenſetzungen ſind neue Woͤrter denkbar. Die Nothwendigkeit derſelben entſteht ſobald ein neues Gedankengebiet gewonnen wird. Wollte ich in dieſem Falle nicht Neues in der eigenen Sprache bilden, ſo muͤßte ich mich in einer fremden Sprache, in der jenes Gebiet ſchon behandelt iſt, ausdruͤcken. Sobald uns entgeht, daß der Verfaſſer etwas neues ſprachliches gebildet hat, ſo verſtehen wir ihn nicht vollkommen in Beziehung auf die Sprache; es kommt etwas nicht in unſer Bewußtſein, was in dem Bewußtſein des Verfaſſers war. Daſſelbe gilt von ganzen Phraſen. Und es muß deßhalb wohl bei allen Werken in Acht genommen werden, welche die erſten ihrer Gattung waren. Jede Schrift, welche in die Anfaͤnge eines neuen Gedankengebietes faͤllt hat die Praͤſumtion fuͤr ſich, daß ſie neue Ausdruͤcke enthalte. Es iſt nicht zu ver- langen, daß das Neue eines Schriftſtellers in der Schrift immer gleich ſichtbar iſt; es kann gerade das fuͤr uns verloren gegangen ſein, worin das Neue zuerſt bemerkbar hervortrat. So bei Plato von dem man weiß, daß er neue Ausdruͤcke producirte zum Behuf neuer philoſophiſcher Ideen. Ein großer Theil ſeiner Sprachproduktionen ging nachher in alle Schulen uͤber. So er- ſcheint uns vieles bekannt, was vielleicht er zuerſt in die Sprache gebracht hat. Bei Plato beruht die Schriftſprache auf dem muͤnd- lichen Geſpraͤch, wo die Kunſtausdruͤcke zuerſt vorgekommen ſein koͤnnen, was uns nun entgeht, da Plato in ſeinen Schriften vor- ausſetzen konnte, das Neue, was er gebraucht, ſei ſeinen Leſern aus ſeinem Geſpraͤch nicht unbekannt. So entſteht in Betreff des Neuen Schwierigkeit und Unſicherheit in der Auslegung. —

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Zitationshilfe: Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 44. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/68>, abgerufen am 04.12.2024.