Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838.

Bild:
<< vorherige Seite

Einige Schriftsteller dieser Periode nähern sich dem guten Zeit-
alter oder suchen es herzustellen. Unsere neutest. Verfasser
aber nehmen ihre Sprache mehr aus dem Gebiet des gemei-
nen Lebens, und haben diese Tendenz nicht. Aber auch jene
sind zuzuziehen wo sie sich im Charakter ihrer Zeit ruhig gehen
lassen. Daher richtige Analogien aus Polybius und Josephus.
Bemerkte Analogien aus attischen Schriftstellern, wie Thucy-
dides, Xenophon, haben einen negativen Nuzen und es ist eine
gute Übung sie zu vergleichen. Nemlich man denkt sich oft
die verschiedenen Gebiete zu abgeschlossen und meint, einiges
könne im klassischen nicht vorkommen, sondern nur im helle-
nistischen und makedonischen, und dieß wird so berichtigt.

4. Der Einfluß des aramäischen ist nur zu bestimmen aus
der allgemeinen Anschauung von der Art sich eine fremde
Sprache anzueignen. Volksthümlichkeit und Neigung zum all-
gemeinen Verkehr sind überall auch im Gebiet der Sprache
bei einander. Häufig verschwindet die lezte als Minimum.
Wo zu sehr die lezte überwiegt, da ist gewiß die Volksthüm-
lichkeit im Verfall. Die Fertigkeit aber sich viele Sprachen
kunstgemäß anzueignen, indem an dem allgemeinen Bilde der
Sprache die Muttersprache und die fremde verglichen werden,
ist ein Talent. Dieses Talent ist unter den Juden niemals
bedeutend gewesen. Jene Leichtigkeit aber, welche jezt bis zum
Verschwinden der Muttersprache gediehen ist, war schon damals
bei ihnen vorhanden. Aber auf dem Wege des gemeinen Ver-
kehrs ohne Grammatik und Litteratur schleichen sich bei der
Aneignung Fehler ein, welche bei wissenschaftlich gebildeten sich
nicht finden, und dieß ist der Unterschied zwischen dem N. T.
und Philo und Josephus. Diese Fehler sind in unserem Falle
zwiefach. Einmal aus dem Contrast des Reichthums und
der Armuth an formellen Elementen entsteht daß die neutestam.
Schriftsteller den griechischen Reichthum nicht so zu gebrauchen
wissen. Dann indem bei der Aneignung die fremden Wörter
auf Wörter in der Muttersprache reducirt werden entsteht leicht

Einige Schriftſteller dieſer Periode naͤhern ſich dem guten Zeit-
alter oder ſuchen es herzuſtellen. Unſere neuteſt. Verfaſſer
aber nehmen ihre Sprache mehr aus dem Gebiet des gemei-
nen Lebens, und haben dieſe Tendenz nicht. Aber auch jene
ſind zuzuziehen wo ſie ſich im Charakter ihrer Zeit ruhig gehen
laſſen. Daher richtige Analogien aus Polybius und Joſephus.
Bemerkte Analogien aus attiſchen Schriftſtellern, wie Thucy-
dides, Xenophon, haben einen negativen Nuzen und es iſt eine
gute Übung ſie zu vergleichen. Nemlich man denkt ſich oft
die verſchiedenen Gebiete zu abgeſchloſſen und meint, einiges
koͤnne im klaſſiſchen nicht vorkommen, ſondern nur im helle-
niſtiſchen und makedoniſchen, und dieß wird ſo berichtigt.

4. Der Einfluß des aramaͤiſchen iſt nur zu beſtimmen aus
der allgemeinen Anſchauung von der Art ſich eine fremde
Sprache anzueignen. Volksthuͤmlichkeit und Neigung zum all-
gemeinen Verkehr ſind uͤberall auch im Gebiet der Sprache
bei einander. Haͤufig verſchwindet die lezte als Minimum.
Wo zu ſehr die lezte uͤberwiegt, da iſt gewiß die Volksthuͤm-
lichkeit im Verfall. Die Fertigkeit aber ſich viele Sprachen
kunſtgemaͤß anzueignen, indem an dem allgemeinen Bilde der
Sprache die Mutterſprache und die fremde verglichen werden,
iſt ein Talent. Dieſes Talent iſt unter den Juden niemals
bedeutend geweſen. Jene Leichtigkeit aber, welche jezt bis zum
Verſchwinden der Mutterſprache gediehen iſt, war ſchon damals
bei ihnen vorhanden. Aber auf dem Wege des gemeinen Ver-
kehrs ohne Grammatik und Litteratur ſchleichen ſich bei der
Aneignung Fehler ein, welche bei wiſſenſchaftlich gebildeten ſich
nicht finden, und dieß iſt der Unterſchied zwiſchen dem N. T.
und Philo und Joſephus. Dieſe Fehler ſind in unſerem Falle
zwiefach. Einmal aus dem Contraſt des Reichthums und
der Armuth an formellen Elementen entſteht daß die neuteſtam.
Schriftſteller den griechiſchen Reichthum nicht ſo zu gebrauchen
wiſſen. Dann indem bei der Aneignung die fremden Woͤrter
auf Woͤrter in der Mutterſprache reducirt werden entſteht leicht

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0079" n="55"/>
Einige Schrift&#x017F;teller die&#x017F;er Periode na&#x0364;hern &#x017F;ich dem guten Zeit-<lb/>
alter oder &#x017F;uchen es herzu&#x017F;tellen. Un&#x017F;ere neute&#x017F;t. Verfa&#x017F;&#x017F;er<lb/>
aber nehmen ihre Sprache mehr aus dem Gebiet des gemei-<lb/>
nen Lebens, und haben die&#x017F;e Tendenz nicht. Aber auch jene<lb/>
&#x017F;ind zuzuziehen wo &#x017F;ie &#x017F;ich im Charakter ihrer Zeit ruhig gehen<lb/>
la&#x017F;&#x017F;en. Daher richtige Analogien aus Polybius und Jo&#x017F;ephus.<lb/>
Bemerkte Analogien aus atti&#x017F;chen Schrift&#x017F;tellern, wie Thucy-<lb/>
dides, Xenophon, haben einen negativen Nuzen und es i&#x017F;t eine<lb/>
gute Übung &#x017F;ie zu vergleichen. Nemlich man denkt &#x017F;ich oft<lb/>
die ver&#x017F;chiedenen Gebiete zu abge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en und meint, einiges<lb/>
ko&#x0364;nne im kla&#x017F;&#x017F;i&#x017F;chen nicht vorkommen, &#x017F;ondern nur im helle-<lb/>
ni&#x017F;ti&#x017F;chen und makedoni&#x017F;chen, und dieß wird &#x017F;o berichtigt.</p><lb/>
            <p>4. Der Einfluß des arama&#x0364;i&#x017F;chen i&#x017F;t nur zu be&#x017F;timmen aus<lb/>
der allgemeinen An&#x017F;chauung von der Art &#x017F;ich eine fremde<lb/>
Sprache anzueignen. Volksthu&#x0364;mlichkeit und Neigung zum all-<lb/>
gemeinen Verkehr &#x017F;ind u&#x0364;berall auch im Gebiet der Sprache<lb/>
bei einander. Ha&#x0364;ufig ver&#x017F;chwindet die lezte als Minimum.<lb/>
Wo zu &#x017F;ehr die lezte u&#x0364;berwiegt, da i&#x017F;t gewiß die Volksthu&#x0364;m-<lb/>
lichkeit im Verfall. Die Fertigkeit aber &#x017F;ich viele Sprachen<lb/>
kun&#x017F;tgema&#x0364;ß anzueignen, indem an dem allgemeinen Bilde der<lb/>
Sprache die Mutter&#x017F;prache und die fremde verglichen werden,<lb/>
i&#x017F;t ein Talent. Die&#x017F;es Talent i&#x017F;t unter den Juden niemals<lb/>
bedeutend gewe&#x017F;en. Jene Leichtigkeit aber, welche jezt bis zum<lb/>
Ver&#x017F;chwinden der Mutter&#x017F;prache gediehen i&#x017F;t, war &#x017F;chon damals<lb/>
bei ihnen vorhanden. Aber auf dem Wege des gemeinen Ver-<lb/>
kehrs ohne Grammatik und Litteratur &#x017F;chleichen &#x017F;ich bei der<lb/>
Aneignung Fehler ein, welche bei wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaftlich gebildeten &#x017F;ich<lb/>
nicht finden, und dieß i&#x017F;t der Unter&#x017F;chied zwi&#x017F;chen dem N. T.<lb/>
und Philo und Jo&#x017F;ephus. Die&#x017F;e Fehler &#x017F;ind in un&#x017F;erem Falle<lb/>
zwiefach. <hi rendition="#g">Einmal</hi> aus dem Contra&#x017F;t des Reichthums und<lb/>
der Armuth an formellen Elementen ent&#x017F;teht daß die neute&#x017F;tam.<lb/>
Schrift&#x017F;teller den griechi&#x017F;chen Reichthum nicht &#x017F;o zu gebrauchen<lb/>
wi&#x017F;&#x017F;en. <hi rendition="#g">Dann</hi> indem bei der Aneignung die fremden Wo&#x0364;rter<lb/>
auf Wo&#x0364;rter in der Mutter&#x017F;prache reducirt werden ent&#x017F;teht leicht<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[55/0079] Einige Schriftſteller dieſer Periode naͤhern ſich dem guten Zeit- alter oder ſuchen es herzuſtellen. Unſere neuteſt. Verfaſſer aber nehmen ihre Sprache mehr aus dem Gebiet des gemei- nen Lebens, und haben dieſe Tendenz nicht. Aber auch jene ſind zuzuziehen wo ſie ſich im Charakter ihrer Zeit ruhig gehen laſſen. Daher richtige Analogien aus Polybius und Joſephus. Bemerkte Analogien aus attiſchen Schriftſtellern, wie Thucy- dides, Xenophon, haben einen negativen Nuzen und es iſt eine gute Übung ſie zu vergleichen. Nemlich man denkt ſich oft die verſchiedenen Gebiete zu abgeſchloſſen und meint, einiges koͤnne im klaſſiſchen nicht vorkommen, ſondern nur im helle- niſtiſchen und makedoniſchen, und dieß wird ſo berichtigt. 4. Der Einfluß des aramaͤiſchen iſt nur zu beſtimmen aus der allgemeinen Anſchauung von der Art ſich eine fremde Sprache anzueignen. Volksthuͤmlichkeit und Neigung zum all- gemeinen Verkehr ſind uͤberall auch im Gebiet der Sprache bei einander. Haͤufig verſchwindet die lezte als Minimum. Wo zu ſehr die lezte uͤberwiegt, da iſt gewiß die Volksthuͤm- lichkeit im Verfall. Die Fertigkeit aber ſich viele Sprachen kunſtgemaͤß anzueignen, indem an dem allgemeinen Bilde der Sprache die Mutterſprache und die fremde verglichen werden, iſt ein Talent. Dieſes Talent iſt unter den Juden niemals bedeutend geweſen. Jene Leichtigkeit aber, welche jezt bis zum Verſchwinden der Mutterſprache gediehen iſt, war ſchon damals bei ihnen vorhanden. Aber auf dem Wege des gemeinen Ver- kehrs ohne Grammatik und Litteratur ſchleichen ſich bei der Aneignung Fehler ein, welche bei wiſſenſchaftlich gebildeten ſich nicht finden, und dieß iſt der Unterſchied zwiſchen dem N. T. und Philo und Joſephus. Dieſe Fehler ſind in unſerem Falle zwiefach. Einmal aus dem Contraſt des Reichthums und der Armuth an formellen Elementen entſteht daß die neuteſtam. Schriftſteller den griechiſchen Reichthum nicht ſo zu gebrauchen wiſſen. Dann indem bei der Aneignung die fremden Woͤrter auf Woͤrter in der Mutterſprache reducirt werden entſteht leicht

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/79
Zitationshilfe: Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 55. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/79>, abgerufen am 04.12.2024.