dieß sind die beiden Systeme der eigenthümlichen Begriffsbildung und soweit auch Sprachbildung des Christenthums. Die lexika- lische Zusammenstellung solcher Begriffe und Ausdrücke, z. B. pistis, dikaiosune, ist verschieden von der Begriffszusammen- stellung in der biblischen Dogmatik und Moral. Denn während diese auf die gebildeten Formeln und Säze geht ihrem Inhalte nach, bezieht sich die lexikalische auf die einzelnen Saztheile und die Säze in rein sprachlicher Hinsicht. Dabei ist der Kanon zu beobachten, daß man wo es sich um eine eigenthümliche Gebrauchs- weise handelt alles was ein Wort eigenthümlich gilt zusammen- faßt, um es zu solchem Verstehen zu bringen, wobei die Eigenthüm- lichkeit der neutest. Sprache auch im Einzelnen scharf begriffen wird. Der jezige Zustand der lexikalischen Hülfsmittel läßt in dieser Hinsicht viel zu wünschen übrig, so daß man mit ihnen zu keinen sicheren hermeneutischen Resultaten gelangen kann. Aber eben deßhalb schließe man nicht zu bald ab; man beachte jedes Gefühl von Unsicherheit und Bedenken, was aus der nicht völligen Übereinstimmung der einzelnen Ausleger entsteht. So wird man wenigstens die Schwierigkeiten nicht vermehren, welche entstehen, wenn man etwas feststellt ohne ein vollständiges Ver- stehen aller Elemente.
3. Zweiter Kanon. Der Sinn eines jeden Wortes an einer gegebenen Stelle muß bestimmt werden nach seinem Zusammensein mit denen die es umgeben.
1. Der erste Kanon (1.) ist mehr ausschließend. Dieser zweite scheint bestimmend zu sein, ein Sprung, der gerechtfer- tigt werden muß, oder vielmehr es ist kein Sprung. Denn erstlich, man kommt von dem ersten Kanon auf den zweiten, insofern jedes einzelne Wort ein bestimmtes Sprachgebiet hat. Denn was man in diesem nicht glaubt erwarten zu können, zieht man auch bei der Erklärung nicht zu. Eben so aber ge- hört mehr oder weniger die ganze Schrift zum Zusammenhang
dieß ſind die beiden Syſteme der eigenthuͤmlichen Begriffsbildung und ſoweit auch Sprachbildung des Chriſtenthums. Die lexika- liſche Zuſammenſtellung ſolcher Begriffe und Ausdruͤcke, z. B. πίστις, διϰαιοσύνη, iſt verſchieden von der Begriffszuſammen- ſtellung in der bibliſchen Dogmatik und Moral. Denn waͤhrend dieſe auf die gebildeten Formeln und Saͤze geht ihrem Inhalte nach, bezieht ſich die lexikaliſche auf die einzelnen Saztheile und die Saͤze in rein ſprachlicher Hinſicht. Dabei iſt der Kanon zu beobachten, daß man wo es ſich um eine eigenthuͤmliche Gebrauchs- weiſe handelt alles was ein Wort eigenthuͤmlich gilt zuſammen- faßt, um es zu ſolchem Verſtehen zu bringen, wobei die Eigenthuͤm- lichkeit der neuteſt. Sprache auch im Einzelnen ſcharf begriffen wird. Der jezige Zuſtand der lexikaliſchen Huͤlfsmittel laͤßt in dieſer Hinſicht viel zu wuͤnſchen uͤbrig, ſo daß man mit ihnen zu keinen ſicheren hermeneutiſchen Reſultaten gelangen kann. Aber eben deßhalb ſchließe man nicht zu bald ab; man beachte jedes Gefuͤhl von Unſicherheit und Bedenken, was aus der nicht voͤlligen Übereinſtimmung der einzelnen Ausleger entſteht. So wird man wenigſtens die Schwierigkeiten nicht vermehren, welche entſtehen, wenn man etwas feſtſtellt ohne ein vollſtaͤndiges Ver- ſtehen aller Elemente.
3. Zweiter Kanon. Der Sinn eines jeden Wortes an einer gegebenen Stelle muß beſtimmt werden nach ſeinem Zuſammenſein mit denen die es umgeben.
1. Der erſte Kanon (1.) iſt mehr ausſchließend. Dieſer zweite ſcheint beſtimmend zu ſein, ein Sprung, der gerechtfer- tigt werden muß, oder vielmehr es iſt kein Sprung. Denn erſtlich, man kommt von dem erſten Kanon auf den zweiten, inſofern jedes einzelne Wort ein beſtimmtes Sprachgebiet hat. Denn was man in dieſem nicht glaubt erwarten zu koͤnnen, zieht man auch bei der Erklaͤrung nicht zu. Eben ſo aber ge- hoͤrt mehr oder weniger die ganze Schrift zum Zuſammenhang
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dieß ſind die beiden Syſteme der eigenthuͤmlichen Begriffsbildung
und ſoweit auch Sprachbildung des Chriſtenthums. Die lexika-
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πίστις, διϰαιοσύνη, iſt verſchieden von der Begriffszuſammen-
ſtellung in der bibliſchen Dogmatik und Moral. Denn waͤhrend
dieſe auf die gebildeten Formeln und Saͤze geht ihrem Inhalte
nach, bezieht ſich die lexikaliſche auf die einzelnen Saztheile und
die Saͤze in rein ſprachlicher Hinſicht. Dabei iſt der Kanon zu
beobachten, daß man wo es ſich um eine eigenthuͤmliche Gebrauchs-
weiſe handelt alles was ein Wort eigenthuͤmlich gilt zuſammen-
faßt, um es zu ſolchem Verſtehen zu bringen, wobei die Eigenthuͤm-
lichkeit der neuteſt. Sprache auch im Einzelnen ſcharf begriffen
wird. Der jezige Zuſtand der lexikaliſchen Huͤlfsmittel laͤßt in
dieſer Hinſicht viel zu wuͤnſchen uͤbrig, ſo daß man mit ihnen
zu keinen ſicheren hermeneutiſchen Reſultaten gelangen kann.
Aber eben deßhalb ſchließe man nicht zu bald ab; man beachte
jedes Gefuͤhl von Unſicherheit und Bedenken, was aus der nicht
voͤlligen Übereinſtimmung der einzelnen Ausleger entſteht. So
wird man wenigſtens die Schwierigkeiten nicht vermehren, welche
entſtehen, wenn man etwas feſtſtellt ohne ein vollſtaͤndiges Ver-
ſtehen aller Elemente.
3. Zweiter Kanon. Der Sinn eines jeden Wortes
an einer gegebenen Stelle muß beſtimmt werden nach ſeinem
Zuſammenſein mit denen die es umgeben.
1. Der erſte Kanon (1.) iſt mehr ausſchließend. Dieſer
zweite ſcheint beſtimmend zu ſein, ein Sprung, der gerechtfer-
tigt werden muß, oder vielmehr es iſt kein Sprung. Denn
erſtlich, man kommt von dem erſten Kanon auf den zweiten,
inſofern jedes einzelne Wort ein beſtimmtes Sprachgebiet hat.
Denn was man in dieſem nicht glaubt erwarten zu koͤnnen,
zieht man auch bei der Erklaͤrung nicht zu. Eben ſo aber ge-
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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 69. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/93>, abgerufen am 04.12.2024.
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