Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.Die heutige Gemeinde, ihre Aufgabe und ihre Wirtschaft. hat selbständige Organe, ein selbständiges Vermögen, eine eigene Kasse, sie hat eineSphäre freier Thätigkeit, wenn sie auch ihren Mitgliedern überwiegend mit einer prä- cisierten Rechtssphäre gegenübersteht, ähnlich wie der Staat dem Bürger. Die heutige Gemeinde ist keine geschlossene Genossenschaft, die beliebig die Auf- Die wirtschaftlichen Aufgaben der heutigen Gemeinde sind nicht mehr dieselben Man hat deshalb geglaubt, in der Formel, die Gemeinde sei ein wirtschaftlicher Wir werden unten noch davon zu sprechen haben, wie neuerdings die wirtschaft- Die heutige Gemeinde, ihre Aufgabe und ihre Wirtſchaft. hat ſelbſtändige Organe, ein ſelbſtändiges Vermögen, eine eigene Kaſſe, ſie hat eineSphäre freier Thätigkeit, wenn ſie auch ihren Mitgliedern überwiegend mit einer prä- ciſierten Rechtsſphäre gegenüberſteht, ähnlich wie der Staat dem Bürger. Die heutige Gemeinde iſt keine geſchloſſene Genoſſenſchaft, die beliebig die Auf- Die wirtſchaftlichen Aufgaben der heutigen Gemeinde ſind nicht mehr dieſelben Man hat deshalb geglaubt, in der Formel, die Gemeinde ſei ein wirtſchaftlicher Wir werden unten noch davon zu ſprechen haben, wie neuerdings die wirtſchaft- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0331" n="315"/><fw place="top" type="header">Die heutige Gemeinde, ihre Aufgabe und ihre Wirtſchaft.</fw><lb/> hat ſelbſtändige Organe, ein ſelbſtändiges Vermögen, eine eigene Kaſſe, ſie hat eine<lb/> Sphäre freier Thätigkeit, wenn ſie auch ihren Mitgliedern überwiegend mit einer prä-<lb/> ciſierten Rechtsſphäre gegenüberſteht, ähnlich wie der Staat dem Bürger.</p><lb/> <p>Die heutige Gemeinde iſt keine geſchloſſene Genoſſenſchaft, die beliebig die Auf-<lb/> nahme verweigern, den Abzug erſchweren kann. Sie muß nach den Grundſätzen der<lb/> heutigen Freizügigkeit und Niederlaſſungsfreiheit jeden Einwohner dulden, der nach den<lb/> Staatsgeſetzen ſich in ihr niederläßt. Sie kann nicht mehr, wie die mittelalterliche Stadt,<lb/> eine ganz ſelbſtändige Wirtſchaftspolitik verfolgen; ſie kann in ihren Gliedern nicht mehr<lb/> den hingebenden lokalen Patriotismus, nicht mehr den zähen, harten Lokalegoismus<lb/> erzeugen. Die Hälfte der in ihr Wohnenden ſind häufig heute an anderem Orte geboren,<lb/> was freilich nicht ausſchließt, daß die meiſten älteren, am Orte ſchon Jahre lang An-<lb/> ſäſſigen mit dem Gedeihen und Leben der Gemeinde ſo enge verwachſen, daß aus dem<lb/> Kreiſe dieſer heraus eine geſunde Kommunalverwaltung entſteht, wie ſie unſere neueren<lb/> Städteordnungen und Gemeindegeſetze herzuſtellen ſuchen. Die Gemeindeverfaſſung jedes<lb/> Landes iſt nicht bloß politiſch und ſocial von der größten Bedeutung, ſondern auch<lb/> wirtſchaftlich. Wo ein geſundes, kräftiges Kommunalleben beſteht, wo die gebildeten<lb/> und beſitzenden Bürger, bis zum Mittel- und Arbeiterſtande herab, zum unbezahlten<lb/> Ehrendienſte für die Gemeinde herangezogen werden, da entſteht in der Bürgerſchaft ein<lb/> kräftiger, gemeinnütziger Sinn, da lernen die oberen Klaſſen die Intereſſen der unteren<lb/> aus eigener Anſchauung kennen, da erhält der egoiſtiſche Erwerbstrieb der einzelnen ſein<lb/> notwendiges Korrektiv durch die lebendigen Nachbargefühle und durch die Einſicht in<lb/> den engen Zuſammenhang des Gedeihens aller Glieder der Gemeinde unter einander<lb/> und die Abhängigkeit aller von der gemeinſamen guten oder ſchlechten Lokalverwaltung.</p><lb/> <p>Die wirtſchaftlichen Aufgaben der heutigen Gemeinde ſind nicht mehr dieſelben<lb/> wie in Dorf und Stadt des Mittelalters. Der Bauer und der Stadtbürger haben heute<lb/> eine viel ſelbſtändigere Wirtſchaft, eine viel größere Sphäre individueller Freiheit, beide<lb/> haben nicht mehr bloß lokale Intereſſen, hängen vielfach von der Handels- und Steuer-<lb/> politik des Staates mehr ab als von der des Ortes. Aber Nachbarn ſind die Dorf-<lb/> wie die Stadtbewohner nicht bloß geblieben, ſondern durch das enge Wohnen, durch die<lb/> Fortſchritte der Technik, durch das zunehmende geiſtige Leben, durch die wachſende Be-<lb/> deutung gemeinſamer Veranſtaltungen noch mehr geworden als früher. Die Solidarität<lb/> und Abhängigkeit des einen Nachbarn vom anderen iſt gewachſen, und damit haben ſich<lb/> die Aufgaben der Nachbarverbände vermehrt, ſo viel ſie andererſeits an größere Verbände<lb/> und den Staat abgegeben haben.</p><lb/> <p>Man hat deshalb geglaubt, in der Formel, die Gemeinde ſei ein wirtſchaftlicher<lb/> Nachbarverband, der Staat ein Herrſchaftsverband zu Macht- und Rechtszwecken, das<lb/> Geheimnis gefunden zu haben, um aus ihr alle Staats- und Gemeindezwecke, ihre<lb/> gegenſeitige Abgrenzung und die richtigen Mittel zu ihrer Durchführung ableiten zu<lb/> können. Aber auch der Staat wirtſchaftet, auch die Gemeinde lebt nach Rechtsgrundſätzen<lb/> und hat eine gebietende und verbietende Zwangsgewalt. Beide ſind weſensverwandte<lb/> Gebietskörperſchaften; nur das iſt richtig, daß beim Staate heute die Macht- und Rechts-<lb/> organiſation voranſteht, bei der Gemeinde die gemeinſamen wirtſchaftlichen Aufgaben.</p><lb/> <p>Wir werden unten noch davon zu ſprechen haben, wie neuerdings die wirtſchaft-<lb/> lichen Gemeindeaufgaben gewachſen ſind. Wir erwähnen hier nur kurz das Wichtigſte:<lb/> die Regulierung des Trinkwaſſers, die Abfuhr der Fäkalien, das Wege- und Bebauungs-<lb/> weſen, die Pflaſterung und Beleuchtung, die lokalen Verkehrseinrichtungen, die Kirchen-<lb/> und Schulverwaltung, die Armenunterſtützung, das ſind die wichtigſten der neueren<lb/> wirtſchaftlichen Funktionen der Gemeinde. Und meiſt ſtehen darunter drei voran: das<lb/> Wege- und Verkehrsweſen, das Schulweſen und die Wohlthätigkeitseinrichtungen. Im<lb/> Jahre 1883—84 gaben die ſämtlichen preußiſchen Stadtgemeinden von 272 Mill. Mark<lb/> 65 für Wege, Verkehr und gewerbliche und gemeinnützige Anſtalten, 62 für Unterricht,<lb/> 36 für Armenweſen, zuſammen 163 Mill. aus; die anderen erheblichen Zwecke koſteten<lb/> folgende Summen: 18 Mill. die ſtaatlichen Zwecke, 24 die Gemeindeverwaltung, 27 das<lb/> Schuldenweſen; der Reſt verteilte ſich auf verſchiedene Aufgaben.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [315/0331]
Die heutige Gemeinde, ihre Aufgabe und ihre Wirtſchaft.
hat ſelbſtändige Organe, ein ſelbſtändiges Vermögen, eine eigene Kaſſe, ſie hat eine
Sphäre freier Thätigkeit, wenn ſie auch ihren Mitgliedern überwiegend mit einer prä-
ciſierten Rechtsſphäre gegenüberſteht, ähnlich wie der Staat dem Bürger.
Die heutige Gemeinde iſt keine geſchloſſene Genoſſenſchaft, die beliebig die Auf-
nahme verweigern, den Abzug erſchweren kann. Sie muß nach den Grundſätzen der
heutigen Freizügigkeit und Niederlaſſungsfreiheit jeden Einwohner dulden, der nach den
Staatsgeſetzen ſich in ihr niederläßt. Sie kann nicht mehr, wie die mittelalterliche Stadt,
eine ganz ſelbſtändige Wirtſchaftspolitik verfolgen; ſie kann in ihren Gliedern nicht mehr
den hingebenden lokalen Patriotismus, nicht mehr den zähen, harten Lokalegoismus
erzeugen. Die Hälfte der in ihr Wohnenden ſind häufig heute an anderem Orte geboren,
was freilich nicht ausſchließt, daß die meiſten älteren, am Orte ſchon Jahre lang An-
ſäſſigen mit dem Gedeihen und Leben der Gemeinde ſo enge verwachſen, daß aus dem
Kreiſe dieſer heraus eine geſunde Kommunalverwaltung entſteht, wie ſie unſere neueren
Städteordnungen und Gemeindegeſetze herzuſtellen ſuchen. Die Gemeindeverfaſſung jedes
Landes iſt nicht bloß politiſch und ſocial von der größten Bedeutung, ſondern auch
wirtſchaftlich. Wo ein geſundes, kräftiges Kommunalleben beſteht, wo die gebildeten
und beſitzenden Bürger, bis zum Mittel- und Arbeiterſtande herab, zum unbezahlten
Ehrendienſte für die Gemeinde herangezogen werden, da entſteht in der Bürgerſchaft ein
kräftiger, gemeinnütziger Sinn, da lernen die oberen Klaſſen die Intereſſen der unteren
aus eigener Anſchauung kennen, da erhält der egoiſtiſche Erwerbstrieb der einzelnen ſein
notwendiges Korrektiv durch die lebendigen Nachbargefühle und durch die Einſicht in
den engen Zuſammenhang des Gedeihens aller Glieder der Gemeinde unter einander
und die Abhängigkeit aller von der gemeinſamen guten oder ſchlechten Lokalverwaltung.
Die wirtſchaftlichen Aufgaben der heutigen Gemeinde ſind nicht mehr dieſelben
wie in Dorf und Stadt des Mittelalters. Der Bauer und der Stadtbürger haben heute
eine viel ſelbſtändigere Wirtſchaft, eine viel größere Sphäre individueller Freiheit, beide
haben nicht mehr bloß lokale Intereſſen, hängen vielfach von der Handels- und Steuer-
politik des Staates mehr ab als von der des Ortes. Aber Nachbarn ſind die Dorf-
wie die Stadtbewohner nicht bloß geblieben, ſondern durch das enge Wohnen, durch die
Fortſchritte der Technik, durch das zunehmende geiſtige Leben, durch die wachſende Be-
deutung gemeinſamer Veranſtaltungen noch mehr geworden als früher. Die Solidarität
und Abhängigkeit des einen Nachbarn vom anderen iſt gewachſen, und damit haben ſich
die Aufgaben der Nachbarverbände vermehrt, ſo viel ſie andererſeits an größere Verbände
und den Staat abgegeben haben.
Man hat deshalb geglaubt, in der Formel, die Gemeinde ſei ein wirtſchaftlicher
Nachbarverband, der Staat ein Herrſchaftsverband zu Macht- und Rechtszwecken, das
Geheimnis gefunden zu haben, um aus ihr alle Staats- und Gemeindezwecke, ihre
gegenſeitige Abgrenzung und die richtigen Mittel zu ihrer Durchführung ableiten zu
können. Aber auch der Staat wirtſchaftet, auch die Gemeinde lebt nach Rechtsgrundſätzen
und hat eine gebietende und verbietende Zwangsgewalt. Beide ſind weſensverwandte
Gebietskörperſchaften; nur das iſt richtig, daß beim Staate heute die Macht- und Rechts-
organiſation voranſteht, bei der Gemeinde die gemeinſamen wirtſchaftlichen Aufgaben.
Wir werden unten noch davon zu ſprechen haben, wie neuerdings die wirtſchaft-
lichen Gemeindeaufgaben gewachſen ſind. Wir erwähnen hier nur kurz das Wichtigſte:
die Regulierung des Trinkwaſſers, die Abfuhr der Fäkalien, das Wege- und Bebauungs-
weſen, die Pflaſterung und Beleuchtung, die lokalen Verkehrseinrichtungen, die Kirchen-
und Schulverwaltung, die Armenunterſtützung, das ſind die wichtigſten der neueren
wirtſchaftlichen Funktionen der Gemeinde. Und meiſt ſtehen darunter drei voran: das
Wege- und Verkehrsweſen, das Schulweſen und die Wohlthätigkeitseinrichtungen. Im
Jahre 1883—84 gaben die ſämtlichen preußiſchen Stadtgemeinden von 272 Mill. Mark
65 für Wege, Verkehr und gewerbliche und gemeinnützige Anſtalten, 62 für Unterricht,
36 für Armenweſen, zuſammen 163 Mill. aus; die anderen erheblichen Zwecke koſteten
folgende Summen: 18 Mill. die ſtaatlichen Zwecke, 24 die Gemeindeverwaltung, 27 das
Schuldenweſen; der Reſt verteilte ſich auf verſchiedene Aufgaben.
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