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Schmoller, Gustav: Zur Geschichte der deutschen Kleingewerbe im 19. Jahrhundert. Halle (Saale), 1870.

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Der Lehrling und Geselle in alter Zeit.
schöne Erinnerung, liegt. Und es ist wahr. In dem
Verbande der verschiedenen wirthschaftlichen Kräfte nicht
bloß zu Einer Arbeit, sondern auch zu Einem Familien-
leben lag eine große sittigende Kraft. Der Lehrling
wurde nicht bloß technisch unterrichtet, er wurde durch
Anweisung und Vorbild zu Fleiß und Ehrbarkeit vom
Meister erzogen, zu Sparsamkeit, Ordnung und Rein-
lichkeit vom sorgenden Auge der Meisterin angehalten.
Der Geselle, der in der Werkstatt des Meisters arbeitete,
an seinem Tische aß und unter seinem Dache schlief,
war in einen für seine Jahre engen Kreis gebannt, er
opferte seine besten Jahre der Hoffnung, später selbst
Meister zu werden; aber in diesem engen Kreise um-
schloß ihn zugleich eine heilsame bürgerliche Zucht und
Sittenstrenge; eine Reihe sinniger Gebräuche und Zere-
monien gliederten seinen Lebensgang, der in feste Sta-
tionen gebannt war, aber auch ein sicheres Ziel vor
sich hatte, eine schöne einheitliche Ordnung darstellte.
Die soziale Gleichheit von Arbeitgeber und Arbeiter, die
Verbindung von Arbeit und Erziehung, von technischer
und menschlicher Erziehung, das waren die großen Vor-
züge jener ältern Gewerbeverfassung.

Freilich hafteten ihr auch zu ihrer Blüthezeit, auch
so lange noch nicht die sinnigen Bräuche in ein dem
grassesten Egoismus dienendes schwerfälliges Zeremoniell
ausgeartet waren, nicht unbedeutende Mißstände an.
Das Ideal war niemals ein dauernd haltbares. Wo
die Bevölkerung wächst, wo das Handwerk blüht, da
wächst die Lehrlings- und Gesellenzahl, der überschüssige
Nachwuchs der Bevölkerung drängt sich besonders gerne

Der Lehrling und Geſelle in alter Zeit.
ſchöne Erinnerung, liegt. Und es iſt wahr. In dem
Verbande der verſchiedenen wirthſchaftlichen Kräfte nicht
bloß zu Einer Arbeit, ſondern auch zu Einem Familien-
leben lag eine große ſittigende Kraft. Der Lehrling
wurde nicht bloß techniſch unterrichtet, er wurde durch
Anweiſung und Vorbild zu Fleiß und Ehrbarkeit vom
Meiſter erzogen, zu Sparſamkeit, Ordnung und Rein-
lichkeit vom ſorgenden Auge der Meiſterin angehalten.
Der Geſelle, der in der Werkſtatt des Meiſters arbeitete,
an ſeinem Tiſche aß und unter ſeinem Dache ſchlief,
war in einen für ſeine Jahre engen Kreis gebannt, er
opferte ſeine beſten Jahre der Hoffnung, ſpäter ſelbſt
Meiſter zu werden; aber in dieſem engen Kreiſe um-
ſchloß ihn zugleich eine heilſame bürgerliche Zucht und
Sittenſtrenge; eine Reihe ſinniger Gebräuche und Zere-
monien gliederten ſeinen Lebensgang, der in feſte Sta-
tionen gebannt war, aber auch ein ſicheres Ziel vor
ſich hatte, eine ſchöne einheitliche Ordnung darſtellte.
Die ſoziale Gleichheit von Arbeitgeber und Arbeiter, die
Verbindung von Arbeit und Erziehung, von techniſcher
und menſchlicher Erziehung, das waren die großen Vor-
züge jener ältern Gewerbeverfaſſung.

Freilich hafteten ihr auch zu ihrer Blüthezeit, auch
ſo lange noch nicht die ſinnigen Bräuche in ein dem
graſſeſten Egoismus dienendes ſchwerfälliges Zeremoniell
ausgeartet waren, nicht unbedeutende Mißſtände an.
Das Ideal war niemals ein dauernd haltbares. Wo
die Bevölkerung wächſt, wo das Handwerk blüht, da
wächſt die Lehrlings- und Geſellenzahl, der überſchüſſige
Nachwuchs der Bevölkerung drängt ſich beſonders gerne

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[327/0349] Der Lehrling und Geſelle in alter Zeit. ſchöne Erinnerung, liegt. Und es iſt wahr. In dem Verbande der verſchiedenen wirthſchaftlichen Kräfte nicht bloß zu Einer Arbeit, ſondern auch zu Einem Familien- leben lag eine große ſittigende Kraft. Der Lehrling wurde nicht bloß techniſch unterrichtet, er wurde durch Anweiſung und Vorbild zu Fleiß und Ehrbarkeit vom Meiſter erzogen, zu Sparſamkeit, Ordnung und Rein- lichkeit vom ſorgenden Auge der Meiſterin angehalten. Der Geſelle, der in der Werkſtatt des Meiſters arbeitete, an ſeinem Tiſche aß und unter ſeinem Dache ſchlief, war in einen für ſeine Jahre engen Kreis gebannt, er opferte ſeine beſten Jahre der Hoffnung, ſpäter ſelbſt Meiſter zu werden; aber in dieſem engen Kreiſe um- ſchloß ihn zugleich eine heilſame bürgerliche Zucht und Sittenſtrenge; eine Reihe ſinniger Gebräuche und Zere- monien gliederten ſeinen Lebensgang, der in feſte Sta- tionen gebannt war, aber auch ein ſicheres Ziel vor ſich hatte, eine ſchöne einheitliche Ordnung darſtellte. Die ſoziale Gleichheit von Arbeitgeber und Arbeiter, die Verbindung von Arbeit und Erziehung, von techniſcher und menſchlicher Erziehung, das waren die großen Vor- züge jener ältern Gewerbeverfaſſung. Freilich hafteten ihr auch zu ihrer Blüthezeit, auch ſo lange noch nicht die ſinnigen Bräuche in ein dem graſſeſten Egoismus dienendes ſchwerfälliges Zeremoniell ausgeartet waren, nicht unbedeutende Mißſtände an. Das Ideal war niemals ein dauernd haltbares. Wo die Bevölkerung wächſt, wo das Handwerk blüht, da wächſt die Lehrlings- und Geſellenzahl, der überſchüſſige Nachwuchs der Bevölkerung drängt ſich beſonders gerne

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Zur Geschichte der deutschen Kleingewerbe im 19. Jahrhundert. Halle (Saale), 1870, S. 327. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_kleingewerbe_1870/349>, abgerufen am 22.11.2024.