Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schmoller, Gustav: Zur Geschichte der deutschen Kleingewerbe im 19. Jahrhundert. Halle (Saale), 1870.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.

Die lapidare Sprache dieser Zahlen ist deutlich
und entsetzlich, wenn man das Elend bedenkt, das zwischen
den Zeilen liegt. Der Sprung von 1858 -- 61 ist der
größte. Selbst wenn man annehmen wollte, daß er in
Folge von Fehlern der Aufnahme größer sei, als die
Veränderung in Wirklichkeit war, das letzte Resultat
bleibt dasselbe. Die Handspinnerei als selbständige Be-
schäftigung hat beinahe überall seit den letzten Jahren
aufgehört. Ueber 6 Pfennige täglich läßt sich kaum
mehr damit verdienen. 1 Soweit die Spinner nicht,
körperlich und geistig zu tief gesunken, dem Elend nach
und nach erlegen sind, haben sie in Feld- und Wald-
arbeit, bei Straßen- und Eisenbahnbauten eine gesündere
und besser bezahlte Beschäftigung gefunden.

Die Maschinenspinnereien, welche das professions-
mäßige Handspinnen zur Unmöglichkeit gemacht, waren
in der Hauptsache keine zollvereinsländischen, sondern
fremde, besonders englische. Für die Handspinner aber lag
darin keine Erleichterung, daß die deutsche Maschinen-
spinnerei sich so langsam entwickelte. 2 Und daneben
hatte diese langsame Entwickelung große Nachtheile für
die Weberei; der verspätete Uebergang zum Maschinen-
garn war die Hauptursache, welche ihren alten Absatz
vernichtete.

Freilich war der Uebergang in Deutschland schwie-
rig; es fehlte das große Kapital, es fehlten die Ma-
schinenfabriken; vor Allem mußte es in einem Lande,

1 Jacobi, Arbeitslöhne in Niederschlesien, a. a. O. S. 328.
2 Gülich IV, S. 442 ff.
Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.

Die lapidare Sprache dieſer Zahlen iſt deutlich
und entſetzlich, wenn man das Elend bedenkt, das zwiſchen
den Zeilen liegt. Der Sprung von 1858 — 61 iſt der
größte. Selbſt wenn man annehmen wollte, daß er in
Folge von Fehlern der Aufnahme größer ſei, als die
Veränderung in Wirklichkeit war, das letzte Reſultat
bleibt daſſelbe. Die Handſpinnerei als ſelbſtändige Be-
ſchäftigung hat beinahe überall ſeit den letzten Jahren
aufgehört. Ueber 6 Pfennige täglich läßt ſich kaum
mehr damit verdienen. 1 Soweit die Spinner nicht,
körperlich und geiſtig zu tief geſunken, dem Elend nach
und nach erlegen ſind, haben ſie in Feld- und Wald-
arbeit, bei Straßen- und Eiſenbahnbauten eine geſündere
und beſſer bezahlte Beſchäftigung gefunden.

Die Maſchinenſpinnereien, welche das profeſſions-
mäßige Handſpinnen zur Unmöglichkeit gemacht, waren
in der Hauptſache keine zollvereinsländiſchen, ſondern
fremde, beſonders engliſche. Für die Handſpinner aber lag
darin keine Erleichterung, daß die deutſche Maſchinen-
ſpinnerei ſich ſo langſam entwickelte. 2 Und daneben
hatte dieſe langſame Entwickelung große Nachtheile für
die Weberei; der verſpätete Uebergang zum Maſchinen-
garn war die Haupturſache, welche ihren alten Abſatz
vernichtete.

Freilich war der Uebergang in Deutſchland ſchwie-
rig; es fehlte das große Kapital, es fehlten die Ma-
ſchinenfabriken; vor Allem mußte es in einem Lande,

1 Jacobi, Arbeitslöhne in Niederſchleſien, a. a. O. S. 328.
2 Gülich IV, S. 442 ff.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0488" n="466"/>
          <fw place="top" type="header">Die Umbildung einzelner Gewerbszweige.</fw><lb/>
          <p>Die lapidare Sprache die&#x017F;er Zahlen i&#x017F;t deutlich<lb/>
und ent&#x017F;etzlich, wenn man das Elend bedenkt, das zwi&#x017F;chen<lb/>
den Zeilen liegt. Der Sprung von 1858 &#x2014; 61 i&#x017F;t der<lb/>
größte. Selb&#x017F;t wenn man annehmen wollte, daß er in<lb/>
Folge von Fehlern der Aufnahme größer &#x017F;ei, als die<lb/>
Veränderung in Wirklichkeit war, das letzte Re&#x017F;ultat<lb/>
bleibt da&#x017F;&#x017F;elbe. Die Hand&#x017F;pinnerei als &#x017F;elb&#x017F;tändige Be-<lb/>
&#x017F;chäftigung hat beinahe überall &#x017F;eit den letzten Jahren<lb/>
aufgehört. Ueber 6 Pfennige täglich läßt &#x017F;ich kaum<lb/>
mehr damit verdienen. <note place="foot" n="1">Jacobi, Arbeitslöhne in Nieder&#x017F;chle&#x017F;ien, a. a. O. S. 328.</note> Soweit die Spinner nicht,<lb/>
körperlich und gei&#x017F;tig zu tief ge&#x017F;unken, dem Elend nach<lb/>
und nach erlegen &#x017F;ind, haben &#x017F;ie in Feld- und Wald-<lb/>
arbeit, bei Straßen- und Ei&#x017F;enbahnbauten eine ge&#x017F;ündere<lb/>
und be&#x017F;&#x017F;er bezahlte Be&#x017F;chäftigung gefunden.</p><lb/>
          <p>Die Ma&#x017F;chinen&#x017F;pinnereien, welche das profe&#x017F;&#x017F;ions-<lb/>
mäßige Hand&#x017F;pinnen zur Unmöglichkeit gemacht, waren<lb/>
in der Haupt&#x017F;ache keine zollvereinsländi&#x017F;chen, &#x017F;ondern<lb/>
fremde, be&#x017F;onders engli&#x017F;che. Für die Hand&#x017F;pinner aber lag<lb/>
darin keine Erleichterung, daß die deut&#x017F;che Ma&#x017F;chinen-<lb/>
&#x017F;pinnerei &#x017F;ich &#x017F;o lang&#x017F;am entwickelte. <note place="foot" n="2">Gülich <hi rendition="#aq">IV,</hi> S. 442 ff.</note> Und daneben<lb/>
hatte die&#x017F;e lang&#x017F;ame Entwickelung große Nachtheile für<lb/>
die Weberei; der ver&#x017F;pätete Uebergang zum Ma&#x017F;chinen-<lb/>
garn war die Hauptur&#x017F;ache, welche ihren alten Ab&#x017F;atz<lb/>
vernichtete.</p><lb/>
          <p>Freilich war der Uebergang in Deut&#x017F;chland &#x017F;chwie-<lb/>
rig; es fehlte das große Kapital, es fehlten die Ma-<lb/>
&#x017F;chinenfabriken; vor Allem mußte es in einem Lande,<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[466/0488] Die Umbildung einzelner Gewerbszweige. Die lapidare Sprache dieſer Zahlen iſt deutlich und entſetzlich, wenn man das Elend bedenkt, das zwiſchen den Zeilen liegt. Der Sprung von 1858 — 61 iſt der größte. Selbſt wenn man annehmen wollte, daß er in Folge von Fehlern der Aufnahme größer ſei, als die Veränderung in Wirklichkeit war, das letzte Reſultat bleibt daſſelbe. Die Handſpinnerei als ſelbſtändige Be- ſchäftigung hat beinahe überall ſeit den letzten Jahren aufgehört. Ueber 6 Pfennige täglich läßt ſich kaum mehr damit verdienen. 1 Soweit die Spinner nicht, körperlich und geiſtig zu tief geſunken, dem Elend nach und nach erlegen ſind, haben ſie in Feld- und Wald- arbeit, bei Straßen- und Eiſenbahnbauten eine geſündere und beſſer bezahlte Beſchäftigung gefunden. Die Maſchinenſpinnereien, welche das profeſſions- mäßige Handſpinnen zur Unmöglichkeit gemacht, waren in der Hauptſache keine zollvereinsländiſchen, ſondern fremde, beſonders engliſche. Für die Handſpinner aber lag darin keine Erleichterung, daß die deutſche Maſchinen- ſpinnerei ſich ſo langſam entwickelte. 2 Und daneben hatte dieſe langſame Entwickelung große Nachtheile für die Weberei; der verſpätete Uebergang zum Maſchinen- garn war die Haupturſache, welche ihren alten Abſatz vernichtete. Freilich war der Uebergang in Deutſchland ſchwie- rig; es fehlte das große Kapital, es fehlten die Ma- ſchinenfabriken; vor Allem mußte es in einem Lande, 1 Jacobi, Arbeitslöhne in Niederſchleſien, a. a. O. S. 328. 2 Gülich IV, S. 442 ff.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_kleingewerbe_1870
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_kleingewerbe_1870/488
Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Zur Geschichte der deutschen Kleingewerbe im 19. Jahrhundert. Halle (Saale), 1870, S. 466. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_kleingewerbe_1870/488>, abgerufen am 16.07.2024.