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Schmoller, Gustav: Zur Geschichte der deutschen Kleingewerbe im 19. Jahrhundert. Halle (Saale), 1870.

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Schluß und Resultate.
und Ablösung, durch welche die Berechtigten oft mehr
als die Hälfte ihres Vermögens verloren, anders als
eine jener gewaltsamen, aber unendlich segensvollen
Neuvertheilungen des Eigenthums? Gerade als man
in Preußen überall, wo es ging, wirthschaftliche Freiheit
und freien Verkehr proklamirte, setzte man Staats-
behörden ein, um da zu interveniren. Warum überließ
man das nicht auch dem Voluntarismus, wenn er
Alles leisten kann? Warum verbot man die alten
Zustände durch Privatverträge neu zu gründen, wenn
der freie Privatvertrag das fürs Ganze Zuträglichste
immer von selbst findet? Warum schuf man durch
gewaltthätig ins Eigenthum eingreifende Gesetze unsern
deutschen Bauernstand, den Stolz und die Zierde unserer
Volkswirthschaft, wenn durch den freien Verkehr die
richtige Vermögens-, Boden- und Einkommensverthei-
lung stets von selbst erfolgt? Halt -- wird man sagen
-- da galt es verrottete, veraltete, durch Gewalt ent-
standene Zustände zu beseitigen. Ja, ist denn heute
jede Gewalt abwesend? Ist die Lage, ist die Bildung
unserer unteren Klassen nicht auch eine Nachwirkung
Jahrhunderte alter Mißbräuche? Werden die heutigen
Zustände unseres Proletariats späteren Zeiten nicht
ebenso erscheinen, wie uns die Lage der Bauern im
vorigen Jahrhundert? Wird das Privat- und Polizei-
recht unserer Zeit später nicht vielleicht für ebenso hart
und gewaltsam gehalten werden, als es der Gegenwart
geläufig und natürlich vorkommt?

Doch will ich keine direkten Folgerungen aus der
Agrargesetzgebung von 1808 -- 50 auf unsere heutige

Schluß und Reſultate.
und Ablöſung, durch welche die Berechtigten oft mehr
als die Hälfte ihres Vermögens verloren, anders als
eine jener gewaltſamen, aber unendlich ſegensvollen
Neuvertheilungen des Eigenthums? Gerade als man
in Preußen überall, wo es ging, wirthſchaftliche Freiheit
und freien Verkehr proklamirte, ſetzte man Staats-
behörden ein, um da zu interveniren. Warum überließ
man das nicht auch dem Voluntarismus, wenn er
Alles leiſten kann? Warum verbot man die alten
Zuſtände durch Privatverträge neu zu gründen, wenn
der freie Privatvertrag das fürs Ganze Zuträglichſte
immer von ſelbſt findet? Warum ſchuf man durch
gewaltthätig ins Eigenthum eingreifende Geſetze unſern
deutſchen Bauernſtand, den Stolz und die Zierde unſerer
Volkswirthſchaft, wenn durch den freien Verkehr die
richtige Vermögens-, Boden- und Einkommensverthei-
lung ſtets von ſelbſt erfolgt? Halt — wird man ſagen
— da galt es verrottete, veraltete, durch Gewalt ent-
ſtandene Zuſtände zu beſeitigen. Ja, iſt denn heute
jede Gewalt abweſend? Iſt die Lage, iſt die Bildung
unſerer unteren Klaſſen nicht auch eine Nachwirkung
Jahrhunderte alter Mißbräuche? Werden die heutigen
Zuſtände unſeres Proletariats ſpäteren Zeiten nicht
ebenſo erſcheinen, wie uns die Lage der Bauern im
vorigen Jahrhundert? Wird das Privat- und Polizei-
recht unſerer Zeit ſpäter nicht vielleicht für ebenſo hart
und gewaltſam gehalten werden, als es der Gegenwart
geläufig und natürlich vorkommt?

Doch will ich keine direkten Folgerungen aus der
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[688/0710] Schluß und Reſultate. und Ablöſung, durch welche die Berechtigten oft mehr als die Hälfte ihres Vermögens verloren, anders als eine jener gewaltſamen, aber unendlich ſegensvollen Neuvertheilungen des Eigenthums? Gerade als man in Preußen überall, wo es ging, wirthſchaftliche Freiheit und freien Verkehr proklamirte, ſetzte man Staats- behörden ein, um da zu interveniren. Warum überließ man das nicht auch dem Voluntarismus, wenn er Alles leiſten kann? Warum verbot man die alten Zuſtände durch Privatverträge neu zu gründen, wenn der freie Privatvertrag das fürs Ganze Zuträglichſte immer von ſelbſt findet? Warum ſchuf man durch gewaltthätig ins Eigenthum eingreifende Geſetze unſern deutſchen Bauernſtand, den Stolz und die Zierde unſerer Volkswirthſchaft, wenn durch den freien Verkehr die richtige Vermögens-, Boden- und Einkommensverthei- lung ſtets von ſelbſt erfolgt? Halt — wird man ſagen — da galt es verrottete, veraltete, durch Gewalt ent- ſtandene Zuſtände zu beſeitigen. Ja, iſt denn heute jede Gewalt abweſend? Iſt die Lage, iſt die Bildung unſerer unteren Klaſſen nicht auch eine Nachwirkung Jahrhunderte alter Mißbräuche? Werden die heutigen Zuſtände unſeres Proletariats ſpäteren Zeiten nicht ebenſo erſcheinen, wie uns die Lage der Bauern im vorigen Jahrhundert? Wird das Privat- und Polizei- recht unſerer Zeit ſpäter nicht vielleicht für ebenſo hart und gewaltſam gehalten werden, als es der Gegenwart geläufig und natürlich vorkommt? Doch will ich keine direkten Folgerungen aus der Agrargeſetzgebung von 1808 — 50 auf unſere heutige

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Zur Geschichte der deutschen Kleingewerbe im 19. Jahrhundert. Halle (Saale), 1870, S. 688. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_kleingewerbe_1870/710>, abgerufen am 24.11.2024.