Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gisander [i. e. Schnabel, Johann Gottfried]: Wunderliche Fata einiger See-Fahrer. Bd. 2. Nordhausen, 1737.

Bild:
<< vorherige Seite

hatte. Mittlerweile setzte er seine Lection bey den
grossen Schülern immer fort, und nachdem die
Stunde verflossen, gab er ihnen die ernstliche Ver-
mahnung, mich nicht auszuhönen, weil er seine beson-
dern Absichten auf mein besonderes Naturell hätte,
ich aber hatte auch meine besondern Gedancken, und
merckte wohl, daß dieses kein Lesen hiesse, konte also
nicht umhin, ihm ins Gesichte zu sagen: Er möchte
mich mit vielen Weitläufftigkeiten verschonen, denn
ich hätte keine Zeit zu verliehren, sondern wolte fein
bald fertig seyn, damit mich mein Vater bey seiner
Hand-Arbeit brauchen könte. Hierauf führete
er mich bey der Hand in sein Haus, erkundigte sich
nach meinen Eltern, und ließ in der Mittags-Stun-
de meinen Vater und Mutter zu sich kommen. Was
er mit ihnen gesprochen, habe ich nicht angehöret,
denn ich mußte unterdessen mit seinen zwey, 8-bis
10. jährigen Kindern essen, nachhero aber sagte
mein Vater und Mutter: Jch solte hinführo nicht
mehr Handlangen helffen, sondern bey dem Herrn
Rector bleiben, und ihm in allen gehorsam seyn, so
lange, bis ich vollkommen lesen könte. Wer war
froher und vergnügter als ich, zumahlen da mir der
gute Rector ein abgelegtes Kleid von seinem älte-
sten Sohne zurechte machen ließ, und mich also vom
Haupte bis auf die Füsse recht reputirlich bekleide-
te. Ein grosser Schüler, der des Rectors Kinder
täglich ein paar Stunden informirte, mußte auch
allen Fleiß an mich wenden, welches denn so viel ver-
ursachte, daß ich binnen wenig Wochen nicht allein
vollkommen lesen, sondern auch etwas weniges
schreiben lernete. Der gute Rector selbst spare-

te
c c 3

hatte. Mittlerweile ſetzte er ſeine Lection bey den
groſſen Schuͤlern immer fort, und nachdem die
Stunde verfloſſen, gab er ihnen die ernſtliche Ver-
mahnung, mich nicht auszuhoͤnen, weil er ſeine beſon-
dern Abſichten auf mein beſonderes Naturell haͤtte,
ich aber hatte auch meine beſondern Gedancken, und
merckte wohl, daß dieſes kein Leſen hieſſe, konte alſo
nicht umhin, ihm ins Geſichte zu ſagen: Er moͤchte
mich mit vielen Weitlaͤufftigkeiten verſchonen, denn
ich haͤtte keine Zeit zu verliehren, ſondern wolte fein
bald fertig ſeyn, damit mich mein Vater bey ſeiner
Hand-Arbeit brauchen koͤnte. Hierauf fuͤhrete
er mich bey der Hand in ſein Haus, erkundigte ſich
nach meinen Eltern, und ließ in der Mittags-Stun-
de meinen Vater und Mutter zu ſich kommen. Was
er mit ihnen geſprochen, habe ich nicht angehoͤret,
denn ich mußte unterdeſſen mit ſeinen zwey, 8-bis
10. jaͤhrigen Kindern eſſen, nachhero aber ſagte
mein Vater und Mutter: Jch ſolte hinfuͤhro nicht
mehr Handlangen helffen, ſondern bey dem Herrn
Rector bleiben, und ihm in allen gehorſam ſeyn, ſo
lange, bis ich vollkommen leſen koͤnte. Wer war
froher und vergnuͤgter als ich, zumahlen da mir der
gute Rector ein abgelegtes Kleid von ſeinem aͤlte-
ſten Sohne zurechte machen ließ, und mich alſo vom
Haupte bis auf die Fuͤſſe recht reputirlich bekleide-
te. Ein groſſer Schuͤler, der des Rectors Kinder
taͤglich ein paar Stunden informirte, mußte auch
allen Fleiß an mich wenden, welches denn ſo viel ver-
urſachte, daß ich binnen wenig Wochen nicht allein
vollkommen leſen, ſondern auch etwas weniges
ſchreiben lernete. Der gute Rector ſelbſt ſpare-

te
c c 3
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0419" n="405"/>
hatte. Mittlerweile &#x017F;etzte er &#x017F;eine <hi rendition="#aq">Lection</hi> bey den<lb/>
gro&#x017F;&#x017F;en Schu&#x0364;lern immer fort, und nachdem die<lb/>
Stunde verflo&#x017F;&#x017F;en, gab er ihnen die ern&#x017F;tliche Ver-<lb/>
mahnung, mich nicht auszuho&#x0364;nen, weil er &#x017F;eine be&#x017F;on-<lb/>
dern Ab&#x017F;ichten auf mein be&#x017F;onderes <hi rendition="#aq">Naturell</hi> ha&#x0364;tte,<lb/>
ich aber hatte auch meine be&#x017F;ondern Gedancken, und<lb/>
merckte wohl, daß die&#x017F;es kein Le&#x017F;en hie&#x017F;&#x017F;e, konte al&#x017F;o<lb/>
nicht umhin, ihm ins Ge&#x017F;ichte zu &#x017F;agen: Er mo&#x0364;chte<lb/>
mich mit vielen Weitla&#x0364;ufftigkeiten ver&#x017F;chonen, denn<lb/>
ich ha&#x0364;tte keine Zeit zu verliehren, &#x017F;ondern wolte fein<lb/>
bald fertig &#x017F;eyn, damit mich mein Vater bey &#x017F;einer<lb/>
Hand-Arbeit brauchen ko&#x0364;nte. Hierauf fu&#x0364;hrete<lb/>
er mich bey der Hand in &#x017F;ein Haus, erkundigte &#x017F;ich<lb/>
nach meinen Eltern, und ließ in der Mittags-Stun-<lb/>
de meinen Vater und Mutter zu &#x017F;ich kommen. Was<lb/>
er mit ihnen ge&#x017F;prochen, habe ich nicht angeho&#x0364;ret,<lb/>
denn ich mußte unterde&#x017F;&#x017F;en mit &#x017F;einen zwey, 8-bis<lb/>
10. ja&#x0364;hrigen Kindern e&#x017F;&#x017F;en, nachhero aber &#x017F;agte<lb/>
mein Vater und Mutter: Jch &#x017F;olte hinfu&#x0364;hro nicht<lb/>
mehr Handlangen helffen, &#x017F;ondern bey dem Herrn<lb/><hi rendition="#aq">Rector</hi> bleiben, und ihm in allen gehor&#x017F;am &#x017F;eyn, &#x017F;o<lb/>
lange, bis ich vollkommen le&#x017F;en ko&#x0364;nte. Wer war<lb/>
froher und vergnu&#x0364;gter als ich, zumahlen da mir der<lb/>
gute <hi rendition="#aq">Rector</hi> ein abgelegtes Kleid von &#x017F;einem a&#x0364;lte-<lb/>
&#x017F;ten Sohne zurechte machen ließ, und mich al&#x017F;o vom<lb/>
Haupte bis auf die Fu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e recht <hi rendition="#aq">reputi</hi>rlich bekleide-<lb/>
te. Ein gro&#x017F;&#x017F;er Schu&#x0364;ler, der des <hi rendition="#aq">Rectors</hi> Kinder<lb/>
ta&#x0364;glich ein paar Stunden <hi rendition="#aq">informi</hi>rte, mußte auch<lb/>
allen Fleiß an mich wenden, welches denn &#x017F;o viel ver-<lb/>
ur&#x017F;achte, daß ich binnen wenig Wochen nicht allein<lb/>
vollkommen le&#x017F;en, &#x017F;ondern auch etwas weniges<lb/>
&#x017F;chreiben lernete. Der gute <hi rendition="#aq">Rector</hi> &#x017F;elb&#x017F;t &#x017F;pare-<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">c c 3</fw><fw place="bottom" type="catch">te</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[405/0419] hatte. Mittlerweile ſetzte er ſeine Lection bey den groſſen Schuͤlern immer fort, und nachdem die Stunde verfloſſen, gab er ihnen die ernſtliche Ver- mahnung, mich nicht auszuhoͤnen, weil er ſeine beſon- dern Abſichten auf mein beſonderes Naturell haͤtte, ich aber hatte auch meine beſondern Gedancken, und merckte wohl, daß dieſes kein Leſen hieſſe, konte alſo nicht umhin, ihm ins Geſichte zu ſagen: Er moͤchte mich mit vielen Weitlaͤufftigkeiten verſchonen, denn ich haͤtte keine Zeit zu verliehren, ſondern wolte fein bald fertig ſeyn, damit mich mein Vater bey ſeiner Hand-Arbeit brauchen koͤnte. Hierauf fuͤhrete er mich bey der Hand in ſein Haus, erkundigte ſich nach meinen Eltern, und ließ in der Mittags-Stun- de meinen Vater und Mutter zu ſich kommen. Was er mit ihnen geſprochen, habe ich nicht angehoͤret, denn ich mußte unterdeſſen mit ſeinen zwey, 8-bis 10. jaͤhrigen Kindern eſſen, nachhero aber ſagte mein Vater und Mutter: Jch ſolte hinfuͤhro nicht mehr Handlangen helffen, ſondern bey dem Herrn Rector bleiben, und ihm in allen gehorſam ſeyn, ſo lange, bis ich vollkommen leſen koͤnte. Wer war froher und vergnuͤgter als ich, zumahlen da mir der gute Rector ein abgelegtes Kleid von ſeinem aͤlte- ſten Sohne zurechte machen ließ, und mich alſo vom Haupte bis auf die Fuͤſſe recht reputirlich bekleide- te. Ein groſſer Schuͤler, der des Rectors Kinder taͤglich ein paar Stunden informirte, mußte auch allen Fleiß an mich wenden, welches denn ſo viel ver- urſachte, daß ich binnen wenig Wochen nicht allein vollkommen leſen, ſondern auch etwas weniges ſchreiben lernete. Der gute Rector ſelbſt ſpare- te c c 3

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schnabel_fata02_1737
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schnabel_fata02_1737/419
Zitationshilfe: Gisander [i. e. Schnabel, Johann Gottfried]: Wunderliche Fata einiger See-Fahrer. Bd. 2. Nordhausen, 1737, S. 405. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schnabel_fata02_1737/419>, abgerufen am 15.06.2024.