Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schoppe, Amalie: Der Prophet. Bd. 1. Jena, 1846.

Bild:
<< vorherige Seite

zu bringen und auf die Leichen von tausend Gemor-
deten, auf die gebrochenen Herzen von Tausenden
schaut der Mond eben so silbern hernieder, als auf
die unter mir liegende, Duft und Wollust athmende
Blumenflur. So sind wir also der Natur, vielleicht
auch dem Schöpfer, nicht mehr, als das Blatt, das
der Sturm zerknittert, als der Wurm, den ein Fuß
zertritt, wir, die wir uns doch so groß wähnen, weil
wir mit unserm Geiste das All umfassen und der Na-
tur ihre Gesetze abgelauscht haben?"

Diese Gedanken beugten und demüthigten ihn
tief; er war sich noch nie so klein, so unbedeutend
vorgekommen, als in dieser Nacht, nie so hülf- und
wehrlos. Der Anblick der großen, mächtigen Natur,
seiner Schwäche und Unmacht gegenüber, that ihm
nicht wohl. Er zog sich vom Fenster zurück und
wollte es schließen, als er hinter sich Tritte vernahm.
Der Gedanke, daß es Dina, die Nachtwandlerin sei,
die noch einmal zu ihm zurückkehre, vielleicht um die
bei ihm vergessenen Papiere zu holen, an die er jetzt
erst wieder dachte, lag nahe; als er sich aber um-
wandte, stand der Prophet vor ihm.

Arnold, der niemand weniger als ihn erwartet
hatte, erschrak sichtbar vor seinem Anblick.

-- "Habe ich Sie erschreckt?" fragte ihn Joe
Smith, indem er ihm die Hand zum Willkommen reichte.

zu bringen und auf die Leichen von tauſend Gemor-
deten, auf die gebrochenen Herzen von Tauſenden
ſchaut der Mond eben ſo ſilbern hernieder, als auf
die unter mir liegende, Duft und Wolluſt athmende
Blumenflur. So ſind wir alſo der Natur, vielleicht
auch dem Schöpfer, nicht mehr, als das Blatt, das
der Sturm zerknittert, als der Wurm, den ein Fuß
zertritt, wir, die wir uns doch ſo groß wähnen, weil
wir mit unſerm Geiſte das All umfaſſen und der Na-
tur ihre Geſetze abgelauſcht haben?“

Dieſe Gedanken beugten und demüthigten ihn
tief; er war ſich noch nie ſo klein, ſo unbedeutend
vorgekommen, als in dieſer Nacht, nie ſo hülf- und
wehrlos. Der Anblick der großen, mächtigen Natur,
ſeiner Schwäche und Unmacht gegenüber, that ihm
nicht wohl. Er zog ſich vom Fenſter zurück und
wollte es ſchließen, als er hinter ſich Tritte vernahm.
Der Gedanke, daß es Dina, die Nachtwandlerin ſei,
die noch einmal zu ihm zurückkehre, vielleicht um die
bei ihm vergeſſenen Papiere zu holen, an die er jetzt
erſt wieder dachte, lag nahe; als er ſich aber um-
wandte, ſtand der Prophet vor ihm.

Arnold, der niemand weniger als ihn erwartet
hatte, erſchrak ſichtbar vor ſeinem Anblick.

— „Habe ich Sie erſchreckt?“ fragte ihn Joe
Smith, indem er ihm die Hand zum Willkommen reichte.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0186" n="178"/>
zu bringen und auf die Leichen von tau&#x017F;end Gemor-<lb/>
deten, auf die gebrochenen Herzen von Tau&#x017F;enden<lb/>
&#x017F;chaut der Mond eben &#x017F;o &#x017F;ilbern hernieder, als auf<lb/>
die unter mir liegende, Duft und Wollu&#x017F;t athmende<lb/>
Blumenflur. So &#x017F;ind wir al&#x017F;o der Natur, vielleicht<lb/>
auch dem Schöpfer, nicht mehr, als das Blatt, das<lb/>
der Sturm zerknittert, als der Wurm, den ein Fuß<lb/>
zertritt, wir, die wir uns doch &#x017F;o groß wähnen, weil<lb/>
wir mit un&#x017F;erm Gei&#x017F;te das All umfa&#x017F;&#x017F;en und der Na-<lb/>
tur ihre Ge&#x017F;etze abgelau&#x017F;cht haben?&#x201C;</p><lb/>
        <p>Die&#x017F;e Gedanken beugten und demüthigten ihn<lb/>
tief; er war &#x017F;ich noch nie &#x017F;o klein, &#x017F;o unbedeutend<lb/>
vorgekommen, als in die&#x017F;er Nacht, nie &#x017F;o hülf- und<lb/>
wehrlos. Der Anblick der großen, mächtigen Natur,<lb/>
&#x017F;einer Schwäche und Unmacht gegenüber, that ihm<lb/>
nicht wohl. Er zog &#x017F;ich vom Fen&#x017F;ter zurück und<lb/>
wollte es &#x017F;chließen, als er hinter &#x017F;ich Tritte vernahm.<lb/>
Der Gedanke, daß es Dina, die Nachtwandlerin &#x017F;ei,<lb/>
die noch einmal zu ihm zurückkehre, vielleicht um die<lb/>
bei ihm verge&#x017F;&#x017F;enen Papiere zu holen, an die er jetzt<lb/>
er&#x017F;t wieder dachte, lag nahe; als er &#x017F;ich aber um-<lb/>
wandte, &#x017F;tand der Prophet vor ihm.</p><lb/>
        <p>Arnold, der niemand weniger als ihn erwartet<lb/>
hatte, er&#x017F;chrak &#x017F;ichtbar vor &#x017F;einem Anblick.</p><lb/>
        <p>&#x2014; &#x201E;Habe ich Sie er&#x017F;chreckt?&#x201C; fragte ihn Joe<lb/>
Smith, indem er ihm die Hand zum Willkommen reichte.</p><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[178/0186] zu bringen und auf die Leichen von tauſend Gemor- deten, auf die gebrochenen Herzen von Tauſenden ſchaut der Mond eben ſo ſilbern hernieder, als auf die unter mir liegende, Duft und Wolluſt athmende Blumenflur. So ſind wir alſo der Natur, vielleicht auch dem Schöpfer, nicht mehr, als das Blatt, das der Sturm zerknittert, als der Wurm, den ein Fuß zertritt, wir, die wir uns doch ſo groß wähnen, weil wir mit unſerm Geiſte das All umfaſſen und der Na- tur ihre Geſetze abgelauſcht haben?“ Dieſe Gedanken beugten und demüthigten ihn tief; er war ſich noch nie ſo klein, ſo unbedeutend vorgekommen, als in dieſer Nacht, nie ſo hülf- und wehrlos. Der Anblick der großen, mächtigen Natur, ſeiner Schwäche und Unmacht gegenüber, that ihm nicht wohl. Er zog ſich vom Fenſter zurück und wollte es ſchließen, als er hinter ſich Tritte vernahm. Der Gedanke, daß es Dina, die Nachtwandlerin ſei, die noch einmal zu ihm zurückkehre, vielleicht um die bei ihm vergeſſenen Papiere zu holen, an die er jetzt erſt wieder dachte, lag nahe; als er ſich aber um- wandte, ſtand der Prophet vor ihm. Arnold, der niemand weniger als ihn erwartet hatte, erſchrak ſichtbar vor ſeinem Anblick. — „Habe ich Sie erſchreckt?“ fragte ihn Joe Smith, indem er ihm die Hand zum Willkommen reichte.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schoppe_prophet01_1846
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schoppe_prophet01_1846/186
Zitationshilfe: Schoppe, Amalie: Der Prophet. Bd. 1. Jena, 1846, S. 178. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schoppe_prophet01_1846/186>, abgerufen am 04.12.2024.