Die Modesucht ist aber mächtiger, als alle Vernunftgründe. Wo diese waltet, bleiben die gutgemeinten Aufklärungen und Belehrungen über nachtheilige und gefährliche Folgen ohne Wirkung. Der immer und immer wieder aufgenommene Kampf der Aerzte gegen die Wespentaillen der Frauenwelt hat nun schon zwei Jahrhunderte gedauert, bis jetzt aber noch nicht vermocht, diese Unsitte für immer zu verbannen. Für die Re- form einer tiefgewurzelten Verkehrtheit des Geschmackes und der Mode ist aber nach den Erfahrungen des alltäglichen Le- bens der Gesichtspunkt der einzige durchgreifend wirksame, von welchem aus das Unschöne der fraglichen Mode in ein klares Licht gestellt wird. Jedenfalls am wirksamsten wird es sein, wenn jene unnatürliche, nur für einen verschrobenen Geschmack schön erscheinende, zusammengepresste Taillenform des weiblichen Geschlechtes von Seiten der Männerwelt durch Wort und Schrift als wahrhaft hässlich, lächerlich und verächtlich hingestellt wird. In aller Weise muss auf die öffentliche Meinung so hingewirkt werden, dass das Erschei- nen in einer solchen Taillenform den Ausdruck der missfälli- gen Ziererei und der gezwungenen Gefallsucht an sich trägt, also das edle Anstands- und Schaamgefühl dagegen rege ge- macht wird.
Wenn nun dem erwachsenen Körper durch das enge Schnüren die augenscheinlichsten und ernstesten Nachtheile zugefügt werden, um wie viel mehr muss dies beim kindlichen Körper der Fall sein, dessen natürliche Umrisslinien überdies in einem noch grelleren Contraste zu jener Taillenform stehen. Das Einzwängen unerwachsener Mädchen in die gewöhnlichen Schnürbrüste ist in der That unverantwortlich. Dadurch wird nicht nur die für die Entwickelung des ganzen Körpers so nothwendige freie kindliche Bewegung gehemmt, sondern es verkümmern auch durch den Druck und die Verschiebung die edelsten inneren Brust- und Unterleibsorgane, noch ehe sie die Stufe vollendeter Ausbildung erreicht haben. Aus diesen Grün- den wird auch der Schiefwuchs durch die gewöhnlichen Schnür- brüste nicht, wie Manche glauben, verhütet, sondern geradezu begünstigt.
8. — 16. JAHR. KÖRPERLICHE SEITE. BEKLEIDUNG.
Die Modesucht ist aber mächtiger, als alle Vernunftgründe. Wo diese waltet, bleiben die gutgemeinten Aufklärungen und Belehrungen über nachtheilige und gefährliche Folgen ohne Wirkung. Der immer und immer wieder aufgenommene Kampf der Aerzte gegen die Wespentaillen der Frauenwelt hat nun schon zwei Jahrhunderte gedauert, bis jetzt aber noch nicht vermocht, diese Unsitte für immer zu verbannen. Für die Re- form einer tiefgewurzelten Verkehrtheit des Geschmackes und der Mode ist aber nach den Erfahrungen des alltäglichen Le- bens der Gesichtspunkt der einzige durchgreifend wirksame, von welchem aus das Unschöne der fraglichen Mode in ein klares Licht gestellt wird. Jedenfalls am wirksamsten wird es sein, wenn jene unnatürliche, nur für einen verschrobenen Geschmack schön erscheinende, zusammengepresste Taillenform des weiblichen Geschlechtes von Seiten der Männerwelt durch Wort und Schrift als wahrhaft hässlich, lächerlich und verächtlich hingestellt wird. In aller Weise muss auf die öffentliche Meinung so hingewirkt werden, dass das Erschei- nen in einer solchen Taillenform den Ausdruck der missfälli- gen Ziererei und der gezwungenen Gefallsucht an sich trägt, also das edle Anstands- und Schaamgefühl dagegen rege ge- macht wird.
Wenn nun dem erwachsenen Körper durch das enge Schnüren die augenscheinlichsten und ernstesten Nachtheile zugefügt werden, um wie viel mehr muss dies beim kindlichen Körper der Fall sein, dessen natürliche Umrisslinien überdies in einem noch grelleren Contraste zu jener Taillenform stehen. Das Einzwängen unerwachsener Mädchen in die gewöhnlichen Schnürbrüste ist in der That unverantwortlich. Dadurch wird nicht nur die für die Entwickelung des ganzen Körpers so nothwendige freie kindliche Bewegung gehemmt, sondern es verkümmern auch durch den Druck und die Verschiebung die edelsten inneren Brust- und Unterleibsorgane, noch ehe sie die Stufe vollendeter Ausbildung erreicht haben. Aus diesen Grün- den wird auch der Schiefwuchs durch die gewöhnlichen Schnür- brüste nicht, wie Manche glauben, verhütet, sondern geradezu begünstigt.
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8. — 16. JAHR. KÖRPERLICHE SEITE. BEKLEIDUNG.
Die Modesucht ist aber mächtiger, als alle Vernunftgründe.
Wo diese waltet, bleiben die gutgemeinten Aufklärungen und
Belehrungen über nachtheilige und gefährliche Folgen ohne
Wirkung. Der immer und immer wieder aufgenommene Kampf
der Aerzte gegen die Wespentaillen der Frauenwelt hat nun
schon zwei Jahrhunderte gedauert, bis jetzt aber noch nicht
vermocht, diese Unsitte für immer zu verbannen. Für die Re-
form einer tiefgewurzelten Verkehrtheit des Geschmackes und
der Mode ist aber nach den Erfahrungen des alltäglichen Le-
bens der Gesichtspunkt der einzige durchgreifend wirksame,
von welchem aus das Unschöne der fraglichen Mode in ein
klares Licht gestellt wird. Jedenfalls am wirksamsten wird
es sein, wenn jene unnatürliche, nur für einen verschrobenen
Geschmack schön erscheinende, zusammengepresste Taillenform
des weiblichen Geschlechtes von Seiten der Männerwelt durch
Wort und Schrift als wahrhaft hässlich, lächerlich und
verächtlich hingestellt wird. In aller Weise muss auf die
öffentliche Meinung so hingewirkt werden, dass das Erschei-
nen in einer solchen Taillenform den Ausdruck der missfälli-
gen Ziererei und der gezwungenen Gefallsucht an sich trägt,
also das edle Anstands- und Schaamgefühl dagegen rege ge-
macht wird.
Wenn nun dem erwachsenen Körper durch das enge
Schnüren die augenscheinlichsten und ernstesten Nachtheile
zugefügt werden, um wie viel mehr muss dies beim kindlichen
Körper der Fall sein, dessen natürliche Umrisslinien überdies
in einem noch grelleren Contraste zu jener Taillenform stehen.
Das Einzwängen unerwachsener Mädchen in die gewöhnlichen
Schnürbrüste ist in der That unverantwortlich. Dadurch wird
nicht nur die für die Entwickelung des ganzen Körpers so
nothwendige freie kindliche Bewegung gehemmt, sondern es
verkümmern auch durch den Druck und die Verschiebung die
edelsten inneren Brust- und Unterleibsorgane, noch ehe sie die
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den wird auch der Schiefwuchs durch die gewöhnlichen Schnür-
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Schreber, Daniel Gottlob Moritz: Kallipädie oder Erziehung zur Schönheit. Leipzig, 1858, S. 191. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schreber_kallipaedie_1858/195>, abgerufen am 09.11.2024.
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